Vom Herrentier zum Hafermotor
Vor 5.000 Jahren wurden bei uns die Menschen sesshaft. Die Bauern der Jungsteinzeit nahmen Rind, Schwein und Schaf als Haustiere in ihren Dienst. Als letztes Großtier folgte das Pferd. Doch es blieb bis ins Mittelalter ein Herrentier: Das Ross erhob seinen Besitzer über das Volk. Erst mit der wachsenden Produktivität der Landwirtschaft und dem Aufkommen des neuen sozialen Stands der städtischen Bürger, wurden Pferde vor Pflüge und Fuhrwerke gespannt.
Der Einzug der Industriezeit machte aus dem Tier der Götter endgültig ein Transportmittel. „Hafermotoren“ wurden die Pferde nun genannt, und es gab mehr als je zuvor. Ausgelöst wurde der enorme Bedarf vor allem durch die Eisenbahn. Sie mobilisierte einen bis dahin nicht vorstellbaren Strom an Gütern und Waren, den nur das Pferd vom Bahnhof zu den Menschen bringen konnte.
Der Star unter den Haustieren
Der Wiederkäuer Rind ist anspruchslos im Futter. Er zieht Gespanne und Pflüge, liefert Milch, selbst sein Mist ist als Dünger und Brennmaterial (Ditten) wertvoll. Kuh, Stier und Ochse lassen sich fast komplett verwerten: aus ihren Körpern lassen sich Fleisch, Leder, Pergament, Leim, Lichter, Seife, Bindematerial und sogar Trinkbecher gewinnen. Das Pferd dagegen liefert wenig Ausbeute. Es ist zudem anspruchsvoll im Futter, es braucht neben der Weide zusätzliche Flächen für den Haferanbau. Trotzdem ist es der Star unter den Haustieren. Mit seinem kräftig ausholenden Gang, der Fähigkeit, weite Strecken zurückzulegen und bei Bedarf zu traben oder zu galoppieren, erhob es seinen Besitzer über die Fußgänger, das Volk. Es gab mehr Kraft, mehr Ansehen und größere Beweglichkeit – es adelte den Mann. Schon in vorgeschichtlicher Zeit wurden Pferde deshalb als Helfer der Götter angesehen. So zieht ein Pferd den bronzezeitlichen Sonnenwagen (etwa 1200 vor Christi Geburt), der im Moor von Trundholm in Dänemark gefunden wurde. Im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung blieb das Pferd hochgestellten Persönlichkeiten vorbehalten. Das belegt auch der Begräbnisplatz im Dithmarscher Immenstedt aus dem 8. Jahrhundert. In der Mitte zwischen zahlreichen „Fußgängergräbern“ liegt ein einziges, reich ausgestattetes Reitergrab.
Ritter, Bürger, Bauer
Das Reich Karls des Großen (*747o. 748/768König/800Kaiser-814†)erstreckte sich vom Mittelmeer bis zur Eider. Ein Gebiet, das zu ausgedehnt war, um es zu Fuß in Krisenfällen zu schützen. Die gab es – im Norden vor allem mit den Sachsen – solange Kaiser Karl lebte. Er brauchte also in allen Teilen seines Reiches berittene Kämpfer, die es schützen und verwalten konnten. Einen Reiter auszurüsten, überstieg die Möglichkeiten der Bauern. Deshalb stattete Karl seine reitende Elite mit geliehenem Besitz aus (Lehen). Dafür mussten sie ihm dienen. Dieses System hatte Karl der Große nicht erfunden, er organisierte es jedoch im großen Stil. Es wurde die Basis mittelalterlicher Herrschaftsverbände. Ritter bedeutet schlicht „Reiter“ – wer Pferde besass, hatte die Macht. Die Macht behielt der Adel auch, als sein Pferdemonopol vom Ende des 12. Jahrhunderts an bröckelte. Ursache dafür war ein grundlegender Wechsel der Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse. Bezogen auf das heutige Gebiet Schleswig-Holsteins, hatte sich in kurzer Zeit die Zahl der Einwohner fast verdoppelt und 430.000 (1225) erreicht. Immer mehr Menschen zog es in die neu gegründeten Städte. Damit entstand das Bürgertum als neue gesellschaftliche Schicht. Die Stadt konnte nur existieren, wenn Lebensmittel sowie Rohstoffe eingeführt werden konnten und wenn es gelang, die Produkte der dort konzentrierten Handwerker und Händler zu verteilen. Das war in Kiepen und mit den langsamen Ochsengespannen nicht mehr zu leisten. Es entstand deshalb eine die Berufsgruppe der Fuhrleute. Die mittelalterliche Stadt benötigte zudem in ihrem Umfeld eine Landwirtschaft, die Überschüsse produzierte. Die konnten erstmals erreicht werden, weil die Kulturflächen sich durch Eindeichungen der fruchtbaren Marschen im Westen des Landes und durch Rodungen im östlichen Hügelland vermehrten und neue Techniken eingesetzt wurden. Der regelmäßige Fruchtwechsel auf den Äckern erhöhte die Erträge, der nun allgemein eingesetzte Wendepflug verbesserte die Bodenqualität. In den ertragsstarken Küstengebieten wurden vermehrt für die Feldarbeit von den Bauern die leistungsfähigeren Pferde eingespannt. Auf der Geest, dem Mittelrücken des Landes mit seinen armen Böden, dagegen, blieben zum Teil bis Anfang des 20.Jahrhunderts Ochsen im Geschirr. Noch 1858 gab Georg Friedrich Dittmann in seinem Handbuch für die schleswig-holsteinische Landwirtschaft zu bedenken, dass, selbst wenn zwei Pferde in der Lage seien, drei Ochsen zu ersetzen, das Pferd nicht immer die wirtschaftlichste Lösung sei.
Das Pferd wird bürgerlich
Auch wenn Gäule seit dem Hochmittelalter Pflug und Wagen zogen, blieben Reitpferde die Statussymbole der Herrschenden. Das sollte sich erst im 16. Jahrhundert ändern. Zogen bei der Schlacht von Hemmingstedt 1500 nur Adelige hoch zu Ross in ihren Untergang, besiegten 59 Jahre danach in der „Letzten Fehde“ berittene Söldner die Dithmarscher. Die Kavallerie als eigener Truppenteil hatte das Ritterheer abgelöst. Das Reitpferd war damit nicht länger allein Adel und Klerus vorbehalten. Es behielt jedoch seinen exklusiven Stand unter den Haustieren. Denn das Bild differenzierte sich in der Zeit der Fürstenstaaten, die mit den Gottorfern auch in den Herzogtümern einzog. Es wurde nun wichtig, wer welches Pferd besaß, ob es einen Karren oder eine fürstliche Kalesche zog, woher es kam und welchen Preis es hatte. Pferde wurden – wie heute Autos – zu Statussymbolen mehrerer sozialer Schichten, in verschiedenen Preisklassen sozusagen. Damit begann auch die gezielte, auf verschiedene Zwecke orientierte Zucht. Im 18. Jahrhundert ergingen so fürstliche Verordnungen, um die Qualität der Pferde für das Militär und den Hof zu verbessern. Die herrschaftlichen Gestüte stiegen zu wichtigen Institutionen im Staate auf.
Holsteiner und Schleswiger
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich die uns heute vertrauten Zuchtrassen heraus, wurde allgemein nach Voll-, Warm- und Kaltblut unterschieden. Dies geschah wahrscheinlich nicht zufällig parallel zur „Verwissenschaftlichung“ auch der Landwirtschaft, die vor allem mit dem Namen Justus von Liebig (*1803-1873†) verbunden ist. Wie Funde belegen, sind Pferde im Laufe der Jahrtausende immer größer geworden. Selbst die Tiere der Ritter in der Schlacht bei Hemmingstedt erreichten nur die Höhe heutiger großer Ponies. Nördlich der Eider dominierte das Schleswiger Pferd. Ein typisches Arbeits- und Ackerpferd aus der Gruppe der dänischen Rösser, das jedoch auch als Reittier unter den schwergepanzerten Rittern einen hervorragenden Ruf genoss. In den Elbmarschen entwickelte sich der Holsteiner. Ein hartes Arbeitspensum und gutes Futter führten wohl dazu, dass sich der warmblütige Holsteiner schon früh zum Glanzstück seiner Gattung entwickelte. Pferde kamen dabei seit altersher weit herum. So wurden schon im 16. Jahrhundert Holsteiner exportiert. 1735 begann das hannoversche Landgestüt seine Zucht mit zwölf Holsteiner Hengsten.
Deren Nachkommen wurden Hannoveraner genannt, weil nicht der Ursprungs- sondern der Geburtsort namensbildend war. Vor allem von 1800 bis 1914 blühte im Norden der Pferdehandel mit großen Märkten in Husum, Itzehoe und Altona. Er versorgte nicht nur die Großstädte und adligen Haushalte, sondern verschaffte auch dem Militär die benötigten Reit- und Zugpferde (Remonten). Erst Ende des 19. Jahrhunderts organisierten sich die Züchter. Am 15. März 1883 wurde mit dem Pferdezuchtverein Krempermarsch der erste Zuchtverband in der Provinz Schleswig-Holstein gegründet. 1891 schlossen die Züchter sich zu einen „Verband der Pferdezuchtvereine in den holsteinischen Marschen“ (Holsteiner Pferde) zusammen. Im selben Jahr entstand der „Verband Schleswiger Pferdezuchtvereine“. Aus den nach ihren Heimatregionen benannten „Landblutpferden“ wurden nun Rassen mit definierten Zuchtzielen. Dass die sich ändern, auch Moden unterworfen sind, zeigt besonders der Wandel des Holsteiners. Bis Mitte des 20. Jahrhundert galt er als Wagenpferd, das man auch reiten konnte. Heute ist der Holsteiner ein reines Sport- und Springpferd. Er schaffte damit einen Wandel, der dem Schleswiger nicht gelang. Kaltblüter gelten heute als Rarität. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg noch waren zwei von drei Pferden in Deutschland Kaltblüter (Brockhaus 1956).
Eisenbahn und „Hafermotor“
1824 lief in Neumünster in der Textilfabrik Renck die erste Dampfmaschine in den Herzogtümern, 1844 fuhr zwischen Altona und Kiel die erste Eisenbahn im dänischen Gesamtstaat. Erstmals gab es eine Konkurrenz zu den Naturkräften und damit auch zum Pferd. Es passierte jedoch etwas auf den ersten Blick Paradoxes: die Zahl der Pferde ging nicht zurück. Sie stieg in der Zeit der Industrie- und Verkehrsrevolution seit 1850 sogar auf eine vorher nie erreichte Höhe. Von 1845 bis 1900 wuchs der Bestand an Pferden im damaligen Gebiet Schleswig-Holsteins um das Anderthalbfache auf knapp 185.000. Das geschah parallel zum Ausbau der Eisenbahn. Sie setzte einen ungeahnten sozialen und wirtschaftlichen Wandel in Gang und mobilisierte einen bis dahin unvorstellbaren Warenstrom. Doch der erreichte nur den Bahnhof.
Um dorthin landwirtschaftliche Produkte zu bringen, um von dort die neuen Düngemittel und industriellen Baustoffe wie Portlandcement oder Dachpappe auf die Baustellen zu bringen und die neue Fabrik- und Massenware in den Dörfern und Städten zu verteilen, brauchte man Pferde. Auf dem Land übernahmen zwar Döschdamper die Arbeit des Dreschens, doch sie verrichteten Arbeit, die vorher von Menschen geleistet wurde. Und weil die Lokomobilen und auch die neuen Dampfmaschinen in den Meiereien mit Kohle versorgt werden mussten, gab es für die Fuhrwerke wieder zusätzliche Arbeit. Die konnte auch aus einem anderen Grund nicht ausgehen: Während des gesamten 19. Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung mit einer bis dahin nicht gekannten Dynamik. 1803 bei der ersten allgemeinen Volkszählung lebten 631.000 Menschen in den Herzogtümern, 1900 in der preußischen Provinz knapp 1,38 Millionen. In der ersten Phase der Industrialisierung bewegte keine andere Kraft so viele Güter wie die der Pferde, die im neuen und technikgläubigen Geist der Zeit gern „Hafermotoren“ genannt wurden.
„Kamerad“ Pferd
Pferde sind Partner des Menschen, tragen Namen, brauchen Zuwendung. Als einziges Großtier bekommen sie im Alter ihr „Gnadenbrot“. Pferde waren neben Hunden die einzigen Haustiere, die den Menschen bis in das vergangenen Jahrtausend in den Kampf begleiteten. Über 1,5 Millionen Pferde zogen auf deutscher Seite mit in den Ersten Weltkrieg. Nur gut ein Drittel von ihnen überlebte. Die Zahlen des Zweiten Weltkrieges sind noch erschreckender: Mit der Wehrmacht sollen 2,7 Millionen Pferde am Krieg teilgenommen haben. Man schätzt, daß davon 1,8 Millionen umgekommen sind. Umgerechnet auf die Dauer des Krieges, waren das täglich 860.
Vom Arbeitstier zum Sportgerät
Noch 1956 vermutete der Große Brockhaus, „das Pferd wird … in der Landwirtschaft nie ganz entbehrlich sein“, doch seine Zeit vor Pflug und Wagen war vorbei. Dabei hatte es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg noch anders ausgesehen. Den Anteil des 1920 an Dänemark gefallenen Nordschleswigs (Abstimmungsgebiet) abgerechnet, hatte die Zahl der Pferde 1949 mit über 177.000 ihren Höchststand erreicht. Viele von ihnen waren mit dem Treck der Flüchtlinge oder den Resten der Wehrmacht ins Land gekommen. Doch dort wurden sie nicht mehr gebraucht. Schon 1960 war der Pferdebestand auf weniger als ein Drittel geschrumpft. Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der Traktoren von 5.300 auf über 40.000. Schlepper ersetzen nicht nur die Zugkraft der Pferde, sondern sparen durch ihre Anbaugeräte auch in großem Umfang menschliche Arbeitskraft ein. Das Pferd hat damit in der Landwirtschaft – mit Ausnahme der Forstwirtschaft – endgültig ausgedient. Nachdem der Bestand 1970 mit 17.000 Tieren seinen Tiefpunkt erreicht hatte, steigt er jedoch dank des Reitsports wieder kräftig an. Inzwischen stehen wieder an die 100.000 (2020) Pferde in schleswig-holsteinischen Ställen.
Werner Junge (TdM 1003 / 0721)
Quellen: Nis R. Nissen, Das Pferd – Arbeitstier und Statussysmbol, in Dithmarschen – Zeitschrift für Landeskunde und Landschaftspflege – Neue Folge, Heft 1/1985, März 1985, Heide, Verlag Boyens & Co, ISSN 0012-4125; Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt und Ortwin Pelc (Hrsg.), Schleswig-Holstein Lexikon, Neumünster, 2000, Wachholtz Verlag, ISBN 3-529-02441-4; Statistisches Jahrbuch, Schleswig-Holstein 2002, ISSN 0487-6423
Bildquellen: Nis R. Nissen, Das Pferd – Arbeitstier und Statussysmbol, in Dithmarschen – Zeitschrift für Landeskunde und Landschaftspflege – Neue Folge, Heft 1/1985, März 1985, Heide, Verlag Boyens & Co, ISSN 0012-4125; Krieg: Stadtarchiv Itzehoe; Fuhrwerk 1957: Stadtarchiv Heide