Aus Watt wird Land
Die faszinierende Region der schleswig-holsteinischen Nordseeküste mit ihren Watten, Sänden, Inseln, Halligen und Marschen ist das Ergebnis des Wechselspiels zwischen den Kräften der Natur und menschlicher Einflüsse. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels, der am Ende der letzten Eiszeit (Weichseleiszeit Eiszeitland) vor 12.000 Jahren, etwa 100 bis 120 Meter unter dem heutigen Niveau lag, begann die Bildung unserer Nordseeküsten. Für die Zeitspanne zwischen 8.600 und 7.100 Jahren vor heute stieg der Meeresspiegel mit einer durchschnittlichen Rate von mehr als zwei Meter im Jahrhundert von einem Niveau von minus 45 Meter bis auf minus 15 Meter unter der heutigen Höhe an. Danach verringerte sich die Anstiegsgeschwindigkeit. Seitdem lassen sich Phasen verstärkter Meeresvorstöße (Transgressionen) und Meeresrückzüge (Regressionen) nachweisen. Ob und in welchem Maße sich der Anstieg des Meeresspiegels in diesem Jahrtausend fortsetzt, ist eine vieldiskutierte Frage. Verbunden mit dem nacheiszeitlichen Meeresspiegelanstieg war eine ständige Veränderung der Küstenlinien. In der Phase des schnellen Meeresspiegelanstiegs lässt sich eine schnelle Ausbreitung der Nordsee erkennen. Zu Beginn der Mittelsteinzeit um etwa 8000 vor Christi dehnten sich im südlichen Nordseegebiet flache Sanderebenen aus. Die Küste lag nördlich der Doggerbank. Zwischen 8.600 und 6.500 Jahren vor heute verschob sich die Küstenlinie etwa 250 bis 300 Kilometer landeinwärts. Vor etwa 7.900 bis 7.600 Jahren vor heute erreichten erste Überflutungen das Vorfeld der ostfriesischen Inseln, vor 6500 Jahren wurde der steil abfallende Rand der Dithmarscher Geest erreicht. Nördlich der Eider bog die Küstenlinie nach Nordwesten um die alten Geestkerne von Amrum und Sylt herum. Das Meer überflutete schnell die flach nach Westen geneigten Sanderebenen sowie tieferen Schmelzwassertäler der letzten Eiszeit und erreichte den Rand der Festlandsgeest. Dann zog sich das Meer zurück. Seit etwa 4.500 Jahren bildete sich eine Ausgleichsküste aus. Aus Sand und Kies aufgeworfene Nehrungen verbanden die Geestkerne miteinander. Die dahinter liegenden flachen Täler und Ebenen wurden dem direkten Meereseinfluss entzogen. Moore, Seen und Schilfsümpfe bildeten hier eine siedlungsfeindliche Landschaft. Vor etwa 2.500 Jahren entstanden die ersten Seemarschen. Marschen entstehen aus dem Aufwuchs von Meeresablagerungen (Sedimenten) über dem Mittleren Tidehochwasser (MThw). Nachdem sich Queller, der regelmäßige Überflutungen vertragen kann, auf dem Schlick angesiedelt hat, wachsen Salzwiesen auf.
Ein Volk auf hohen Hügeln
Etwa vor 2.000 Jahren segelte der Römer Plinius entlang der Nordseeküste und versuchte wiederzugeben, was ihm fremd und unheimlich erschien: „Auch im Norden habe ich die Stämme der Chauken gesehen, welche in die großen und die kleinen eingeteilt werden… In ungeheurem Andrang stürzt dort in einem Zeitraum von Tag und Nacht zweimal das Meer heran, breitet sich ins Unermeßliche aus und bedeckt einen ewig in der Natur strittigen Raum, so daß es zweifelhaft ist, ob er dem Festlande angehört oder einen Teil des Meeres bildet. Hier haust das ärmliche Volk auf hohen Hügeln“ (Nat. hist. 16,2 zitiert nach Detlefsen ,1891; und Jacob-Friesen ,1940).
Siedeln am Rande des Meeres
Ein niedriger Meeres- und Sturmflutspiegel begünstigte im frühen ersten Jahrhundert nach Christus im Dithmarscher Küstengebiet und entlang der Eidermündung eine Besiedlung der Seemarschen. Auf höheren Uferwällen entstanden zumeist Flachsiedlungen, die jedoch schon bald zu Wurten (in Nordfriesland Warften genannt) erhöht werden mussten. Eine zunehmende Vernässung der binnenwärts gelegenen Wirtschaftsflächen oder häufige Salzwasserüberschwemmungen erforderten oft schon nach 100 bis 200 Jahren eine Aufgabe der Siedlungen. Dies vermitteln die Ausgrabungen von Wurten in Tiebensee, Haferwisch und Süderbusenwurth in Dithmarschen. Auf den höheren Uferwällen entstanden hingegen entlang der Eidermündung über mehrere Jahrhunderte besiedelte Dorfwurten, wie das Beispiel Tofting zeigt. Die Salzwiesen im Umland dieser Wurten boten das Weideland für das Vieh, auf den höher gelegenen Flächen – meist Uferwälle an Prielen – wurde Heu gewonnen und in den Sommermonaten Getreide angebaut.
Die zweite Landnahme
Im Laufe der Völkerwanderungszeit verließen die germanischen Stämme die Westküste, Teile der Angeln und Sachsen (Angelsachsen) wanderten nach England ab. Eine Neubesiedlung des schleswig-holsteinischen Küstengebietes erfolgte seit dem 7. Jahrhundert zuerst wieder durch Sachsen im heutigen Dithmarschen. Nördlich der Eider wanderte ab dem 8. Jahrhundert mit den Friesen ein neuer Volkstamm ein. Im Dithmarscher Küstengebiet waren teilweise hohe Marschrücken aufgelandet, die sich in einer Phase einer erneuten Meeresberuhigung für die Anlage von Flachsiedlungen eigneten. Den inneren Teil der alten Marsch nahm in dieser Zeit ein ausgedehntes Moorgebiet ein. Mit steigender Zahl höher auflaufender Sturmfluten wurden die Wohnplätze seit dem 9. Jahrhundert zu Wurten erhöht. Aus dem Zusammenschluss mehrerer Einzelhofwurten entstanden große Wurtendörfer, wie Marne, Wesselburen oder Wöhrden. Die Wurten wuchsen über mehrere Jahrhunderte mit dem bei der Viehhaltung anfallenden Mist, der mit Kleisoden abgedeckt wurde. Die vorherrschende Hausform bildeten große Wohnstallhäuser mit Flechtwänden und eingegrabenen Pfosten, Zäune begrenzten oft die Hofareale.
Deichbau formt das Land
Im 12. Jahrhundert setzte ein völliger Wandel der Küstenlandschaft ein, der den Naturraum mit seinen Salzwiesen und Mooren in eine agrarisch genutzte Kulturlandschaft umwandelte. Im Dithmarscher Küstengebiet schützte ebenso wie im südlichen Eiderstedt ein küstenparalleler Deich die alte Marsch, während in dem von zahlreichen Prielströmen zergliederten nördlichen Eiderstedt ebenso wie in den nordfriesischen Utlanden nur eine kleinräumige Bedeichung möglich war. Träger des Deichbaus in den Marschen waren genossenwirtschaftlich organisierte Verbände (Geschlechter). Diese waren in Kirchspielen organisiert.
Sturmfluten vernichten das Kulturland
Als besonders dramatisch gilt die erste Mandränke von 1362, in deren Folge weite Teile der äußeren nordfriesischen Utlande untergingen. „1362 was ene grote Flot, genahmet de grote Mandrenke“ heißt es bei dem Kirchenschreiber Russe. Danach begann die Sturmflut am 15. Januar 1362, erreichte ihren Höhepunkt am 16. und endete einen Tag später. Der Chronist M. Antonius Heimreich (*1626-1685†) berichtet, dass die stürmische Westsee vier Ellen (etwa 2,4 Meter) über die höchsten Deiche gegangen sei, dass die Flut 21 Deichbrüche verursachte, der Ort Rungholt zusammen mit sieben anderen Kirchspielen in der Edomsharde unterging und 7.600 Menschen umkamen. Die Chroniken sprechen von insgesamt 100.000 Toten, eine Zahl, die sicherlich übertrieben ist. Warum wirkte sich die Sturmflut von 1362 so katastrophal aus? Ursprünglich nahm man an, dass es der Mensch selbst war, der dazu beigetragen hatte, denn in einigen Bereichen Nordfrieslands wurde der unter der Oberfläche anstehende Torf zur Salzgewinnung abgegraben. Dadurch gerieten einige Marschen unter den Stand des damaligen Mittleren Tidehochwassers. Deichbrüche hatten daher oft die Vernichtung des Kulturlandes zur Folge. Erst das im Bergbau gewonnene bessere Salz führte zur Aufgabe des Salztorfabbaus in den Utlanden. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Geologie viel entscheidender für die Auswirkungen der Katastrophenfluten war. Im Untergrund Nordfrieslands liegen eiszeitliche Schmelzwassertäler, die das in der Nacheiszeit vordringende Meer mit Sedimenten aufgefüllt hatte. In den Sturmfluten des 14. und 17. Jahrhunderts drangen breite und tiefe Prielströme in diese instabilen Bereiche ein. Hever und Süderaue zerrissen das Marschland.
Die zweite große Mandränke
Nach einer Reihe weiterer schwerer Sturmfluten brach am 11. Oktober des Jahres 1634 die zweite große Mandränke über die Küste herein. Die Flut riss die etwa 22.000 Hektar große Marschinsel Strand auseinander. Nur die Restinseln Pellworm und Nordstrand, das hoch gelegene „Wüste Moor“ der alten Insel (heute die Hallig Nordstrandischmoor) und einige kleine Halligen blieben erhalten. In Klixbüll am Geestrand erreichte die Flut eine Höhe von 4,3 Meter über Normalnull. In Dithmarschen wurde die gesamte Marsch überschwemmt, weil „die Deiche aufs kläglichste zugerichtet und an vielen Stellen ganz weggeworfen wurden“ und „das Land so verdorben“ war, „daß es in vielen Jahren nicht wieder in den vorigen Stand kommen möge“ (Heimreich). Die Verluste waren ungeheuerlich. Pastor Heimreich berichtet: „am 11. und 12. Octobris in der nacht, seyndt durch die erschreckliche und unerhörte Wasserflut in Fürstl. Gnedl. Marschländern… versuffen und weggetrieben im Norderen Theill Dithmarschens: Persohnen 327, Häuser 159, Pferde 640, Rindtviehe Stück 2552, Schaffe, Schweine und Gänse Stück 1008; an reinem Korn 6538 Tonnen; im Nordstrandt: darunter 9 Prediger und 12 Küstere, Häusere weggetrieben 1339, Windmühle weggetrieben 28, Glucktührme weggetrieben 9, An Viehe und Leben gern Habe Stück 50.000…“ Infolge dieser katastrophalen Sturmfluten wurden ehemals vom Menschen besiedelte Kulturlandschaften mitsamt Warften, Kirchen, Äckern, Wegen und Sielen vom Meer überschwemmt. Als Kulturspuren liegen sie heute im Wattenmeer.
Sturmfluten und Küstenschutz
Seit der frühen Neuzeit erhielten die Deiche größere Ausmaße und zogen sich schnurgerade durch die Landschaft, Priele wurden abgedämmt und mit Schleusen versehen. An den Stellen, wo ausreichend Vorland aufgewachsen war, wiesen die Deiche flache Seeseiten auf, dort wo sie direkt an das Meer grenzten, mussten sie mit einer hölzernen Plankenwand versehen werden. Diese, vor allem vom 15. bis 17. Jahrhundert errichteten Stackdeiche waren besonders gefährdet und brachen oft. Erst in der Neuzeit entwickelte man bessere Techniken zum Schutz des Deichfußes. Der Deichfuß wurde mit Stroh bestickt. Heute schützen Steindossierungen die an das Meer grenzenden Deiche. Trotz dieser Katastrophenfluten wurden so durch planmäßige Neueindeichungen seit dem 17. Jahrhundert mehr Land dazugewonnen, als verloren ging. Aber auch die neuen Deiche hielten den Sturmfluten nicht immer stand, wie man an den Sturmfluten der Jahre 1953, 1962 und 1976 erkennen kann. Als Vorbeugung gegen zukünftige Katastrophen wurden daher im Rahmen des 1963 aufgelegten Generalplans Küstenschutz die Deichlinie verkürzt, die Deiche verstärkt und die Mündungen der Eider (Eidersperrwerk), Stör, Pinnau und Krückau durch Sperrwerke geschützt. Wie notwendig diese Deichverstärkungen waren, zeigte sich in der „Jahrhundertflut“ vom 3. Januar 1976. Der auslösende „Capella-Orkan“ war einer der stärksten der letzten 30 Jahre. Er erreichte in Büsum Windgeschwindigkeiten von zehn Beaufort und Spitzenböen von 13 Beaufort, was 145 Kilometer pro Stunde entspricht. Der ungeheure Winddruck staute die Wassermassen der Nordsee an den Deichen der Elbe und an der Westküste Schleswig-Holsteins auf bis dahin nicht erreichte Höhen über Normalnull an: in Hamburg 6,45 Meter, in Büsum 5,16 Meter und in Husum 5,66 Meter. Vom 26. bis 28. Februar 1990 suchte eine Orkankette die deutsche Nordseeküste heim.
Das Meer steigt weiter
Wie sich die Küste in diesem Jahrtausend bei einem weiteren Meeresspiegelanstieg verändern wird, ist nur schwer abzuschätzen. Die Thematik Mensch und Natur wird uns – wie seit 2000 Jahren – weiter begleiten. Nur in Kenntnis vergangener Prozesse lassen sich zukünftige Entwicklungen einschätzen und beurteilen. Das Fenster in die Vergangenheit ermöglicht uns, zu einem besseren Verständnis der heutigen Umwelt zu gelangen und unser historisches Erbe zu bewahren. Beispielhaft lassen die interdisziplinären Untersuchungen von Archäologie, Geologie, historischer Geographie und Archäobotanik erkennen, wie der Mensch in den ältesten Phasen seiner Siedlungstätigkeit in den Marschen weitgehend in der Anlage seiner Siedlungsplätze und in seiner Wirtschaftsweise von dem sich wandelnden Naturraum abhängig blieb, bevor er seit dem hohen Mittelalter in den Grundzügen die Kulturlandschaft schuf, in der wir heute leben.
Dirk Meier (TdM 0702 / 0721)
Literaturhinweise: Ludwig Fischer, Kulturlandschaft Nordseemarschen, Bredstedt, 1997,Nordfriisk Instituut; Hans-Joachim Kühn, Die Anfänge des Deichbaus in Schleswig-Holstein, Heide, 1992, Boyens & Co; Dirk Meier, Dithmarschen – ein Reiseführer, Hamburg, 1999, Ellert und Richter; Dirk Meier in: Geschichte Dithmarschens, Verein für Dithmarscher Landeskunde e.V. (Hrsg.), Heide, 2000, Boyens & Co, ISBN 3-8042-0859-2; Dirk Meier, Landschaftsentwicklung und Siedlungsgeschichte des Eiderstedter und Dithmarscher Küstengebietes als Teilregionen des Nordseeküstenraumes, in Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie, Bonn, 2001, Habelt; Peter Wieland, Küstenfibel, Heide, 1990, Boyens & Co
Bildquellen: Arbeitsgruppe Küstenarchäologie Forschungs- und Technologiezentrum Westküste; Luftbilder: Walter Raabe, Friedrichstadt.