Der erste deutsche Literaturnobelpreisträger
Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Heinrich Böll und zuletzt Günter Grass erhielten von der Schwedischen Akademie der Sprache den Literaturnobelpreis verliehen. Seit 1901 gibt es diese heute weltweit bedeutendste Auszeichnung für Schriftsteller. 1902 schon ging sie zum ersten Mal an einen Deutschen. Doch es war kein Literat, sondern – und das ist bis heute einmalig – ein Historiker. Knapp ein Jahr vor seinem Tod erhielt der in Garding auf Eiderstedt 1817 geborene Theodor Mommsen den Nobelpreis für seine „Römische Geschichte“. Die Akademie sprach dem Buch einen hohen literarischen Rang zu, nannte Mommsen den „größten lebenden Meister der historischen Darstellung“. Sie verwies auch auf Mommsens wissenschaftliches Gesamtwerk, das mehr als 1.500 Titel umfaßt.
Lebensstationen
Das Leben von Theodor Mommsen war eine Erfolgsgeschichte. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen und brachte es dank großer Begabung, mit Einsatz und Disziplin bis zum international verehrten Gelehrten. Dennoch blieb er bescheiden und zweifelte immer wieder an seiner Arbeit. Geboren wurde Mommsen an der schleswig-holsteinischen Westküste auf der Halbinsel Eiderstedt in der kleinen Stadt Garding. Dort war sein Vater Diakon (zweiter Pastor); 1821 übernahm er dieses Amt in Oldesloe. Vater Mommsen mußte seine Söhne zunächst selbst unterrichten. Von 1834 bis 1838 besuchte Theodor das Gymnasium Christianeum in Altona. Danach schrieb Mommsen sich in Kiel an der Christian-Albrechts-Universität ein, um Rechtswissenschaft zu studieren. Die Universität hatte zu dieser Zeit nicht mehr als 200 bis 300 Studenten. Doch wirkten an ihr Gelehrte von Rang wie etwa der Jurist Nicolaus Falck, die Historiker Johann Gustav Droysen und Georg Waitz sowie der klassische Philologe und Mozart-Biograph Otto Jahn. Der begabte und aufgeweckte Mommsen besuchte ihre Vorlesungen und Seminare und war oft deren Gast. Denn seine Interessen galten nicht nur der Jurisprudenz, sondern auch der Geschichte, dem klassischen Altertum, seiner Kunst und Literatur sowie der Landesgeschichte. Mit dem juristischen Amtsexamen und der Promotion zum Dr. jur. beendete Mommsen 1843 sein Studium.
Stipendiat des dänischen Königs
Im April 1844 erhielt er ein Reisestipendium seines Landesherren, des dänischen Königs, das ihn über Paris nach Italien brachte, von wo er 1847 zurückkehrte. Ein Jahr später wurde er zum Professor für Römisches Recht an der Universität Leipzig berufen, weitere Stationen waren die Universitäten Zürich und Breslau, ehe er 1858 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde. Drei Jahre danach übernahm er an der Berliner Universität zusätzlich eine Professur für römische Geschichte. In Berlin stieg Mommsen zum international angesehen Gelehrten auf; Höhepunkt der Karriere war die Verleihung des Literaturnobelpreises 1902, knapp ein Jahr vor seinem Tod am 31.10.1903.
Der Familienmensch
Mommsen blieb neben all seiner Arbeit auch ein Familienmensch. Mit seiner Frau Maria Auguste hatte er nicht weniger als 16 Kinder. Obgleich er sich als Wissenschaftler und Politiker ein unglaublich großes Arbeitspensum auferlegte, kümmerte er sich um die Erziehung seiner Kinder. So sorgte er dafür, daß auch seine Töchter einen Beruf erlernten, was seinerzeit die große Ausnahme war.
Die „Römische Geschichte“
Den Literaturnobelpreis erhielt Mommsen für das Buch „Römische Geschichte“. Zwischen Sommer 1854 und Frühjahr 1856 waren die drei Bände erschienen. Sie behandeln die Geschichte Roms von den Anfängen bis zum Mord an Caesar. Das Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und liegt inzwischen in 17. Auflage vor. Dieser Erfolg fusst auf Mommsens unvergleichlicher Art, lebendig und engagiert zu schreiben. Er hat in dem Buch die römische Geschichte in die Sprache seiner Zeit übersetzt: Der Konsul ist „Bürgermeister“ geworden, der Feldherr „General“, die Flotte ist die „Kriegsmarine“, ihr Kommando obliegt dem „Admiral“. Es gibt bereits „Fabrikanten“ und „Fabrikarbeiter“, „Ingenieure“ und „Büropersonal“. Mommsen schildert die Geschichte der römischen Republik aus liberaler Perspektive: Bürgerliche Freiheit und nationale Einheit suchte er auch im antiken Rom. Das Leben Caesars bildet den Höhepunkt der „Römischen Geschichte“: stilistisch, im künstlerischen Aufbau und ebenso in der geistigen Konzeption. Caesar, der Eroberer Galliens, der Reformer und Diktator, der an den Iden des März 44 vor Christi ermordet wurde, war für Mommsen das Vorbild eines gerechten Bürgerkönigs, den er sich so sehr für das Deutschland des 19.Jahrhunderts wünschte. Die „Römische Geschichte“ ist zugleich intellektuell brillant als auch allgemein verständlich. Die Kombination dieser Qualitäten erklärt ihren großen Anklang in der Öffentlichkeit.
Der Wissenschaftler
Mommsen ist die Forscherpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts, die entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich die Alte Geschichte innerhalb der modernen Geschichtswissenschaft zu einer weitgehend selbständigen Teildisziplin entwickelte. Eine Hauptleistung Mommsens ist die Veröffentlichung zahlreicher Quellen, besonders die von ihm systematisch erschlossenen lateinischen Inschriften. Diese in Stein, Metall oder auf anderen festen Materialien überlieferten Texte dienten in der Antike verschiedenen Zwecken, als Grabinschrift genauso wie zur Bekanntgabe von Gesetzen. Der Wert der Inschriften ist unermeßlich groß. Sie sind der Schlüssel, um das religiöse, wirtschaftliche und alltägliche Leben der Antike zu erschließen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lagen zwar schon etliche Abschriften von Inschriften gedruckt vor, es existierte auch ein Wust ungedruckter Aufzeichnungen, und viele Inschriften waren noch gar nicht entdeckt. Bereits während seiner Italienreise 1844 bis 1847 nahm Mommsen selbst an entlegenen Orten zahlreiche Inschriften auf. Und seit seiner Tätigkeit an der Preußischen Akademie der Wissenschaften (ab 1858) bemühte er sich um die systematische Publikation aller lateinischen Inschriften im „Corpus Inscriptionum Latinarum“ (CIL). Mommsens Arbeitseinsatz war enorm, er selbst gab fünf Bände heraus und konnte dank seines Organisationstalents zahlreiche Schüler und Mitarbeiter sowie ausländische Wissenschaftler für die Arbeit am CIL gewinnen. Wie bei seinen anderen Quellenpublikationen knüpfte er auch hier von der Preußischen Akademie aus ein weitgespanntes Netzwerk von Forschern und Instituten, das eine zügige Edition der Inschriften ermöglichte. Neben seiner Tätigkeit als Herausgeber und Wissenschaftsorganisator schrieb Mommsen noch eine kaum übersehbare Zahl von Aufsätzen sowie einige große zusammenfassende Werke, wie z.B. die drei Bände des „Römischen Staatsrechts“. Bis heute prägt seine vorbildliche quellenkritische Forschung die Geschichtswissenschaft.
Liberaler Politiker und Journalist
Mommsen war auch ein streitbarer Zeitgenosse. Als Politiker und Journalist bewies er Zivilcourage. Als sich die deutschen „Schleswigholsteiner“ im Revolutionsjahr 1848 gegen den dänischen Gesamtstaat erhoben (Erhebung), war Mommsen sogleich zur Stelle. Er wurde Redakteur der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“, eines Blattes der Provisorischen Regierung. Nach dem Urteil eines zeitweiligen Mitstreiters gab Mommsen der Zeitung eine „sehr frische und lebenskräftige Haltung“. Geistreich schrieb er für seine liberalen und nationalen Grundsätze. Er setzte sich für das allgemeine Wahlrecht wie auch ein deutsches „Schleswigholstein“ ein. Herbst 1848 verließ Mommsen den Norden, um in Leipzig seine erste Professur anzutreten. Dort nahm er 1849 am sächsischen Maiaufstand teil – einem Protest gegen die Unterdrückung der Einheits- und Freiheitsbestrebungen in Deutschland – und wurde dafür zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. In zweiter Instanz wurde er freigesprochen, jedoch aus seinem Amt entlassen. Mommsen ging nach Zürich. Während seine wissenschaftliche Karriere weiterging, kehrte er erst in den 1860er Jahren in die Politik zurück. 1863 bis 1867 und 1873 bis 1879 gehörte er dem preußischen Abgeordnetenhaus an, 1881 bis 1884 war er Abgeordneter des Reichstages. Die deutsche Einheit, die 1871 unter dem Ministerpräsidenten Otto von Bismarck herbeigeführt wurde, begrüßte Mommsen begeistert. Im Unterschied zu vielen Revolutionären von 1848 gab Mommsen jedoch seine liberal-freiheitliche Haltung nicht auf. Und im Berliner ‚Antisemitismusstreit‘ 1879/1880, einer Aufsehen erregenden publizistischen Diskussion über die Rolle der Juden im jungen Deutschen Reich, setzte sich Mommsen engagiert für „unser Judentum“ ein, für die Juden als gleichberechtigte Mitbürger in der deutschen Nation. Allerdings forderte er auch, dass sie ihre „Sonderart“ ablegen und konvertieren sollten.
Späte Resignation
Am Ende seines Lebens resignierte Mommsen. In seinem Testament von 1899 schrieb er verbittert: „In meinem innersten Wesen, und ich meine mit dem Besten was in mir ist, bin ich stets ein ‚animal politicum‘ gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation“. Mommsen litt darunter, dass die Deutschen am Ende des 19. Jahrhunderts unter Kaiser Wilhelm II. mehr und mehr dem nationalen Machtgedanken und dem Imperialismus huldigten und immer weniger bereit waren, die staatsbürgerlichen Freiheiten und Rechte zu sichern. Er schrieb jedoch auch: „Ich habe in meinem Leben trotz meiner äußeren Erfolge nicht das Rechte erreicht.“ Mommsen litt zuweilen unter Depressionen, die ihn wochenlang nicht arbeiten ließen. Möglicherweise forderten der unermüdliche, pausenlose Arbeitseinsatz, mit dem Mommsen in der Alten Geschichte so viel erreicht hatte, ihren Tribut, zumal auch er erkennen musste, dass noch so viel zu tun sei.
Dr. Thomas Hill (TdM 1102 /0721/0622)
Literatur: Theodor Mommsen: Römische Geschichte, München 2001 (dtv-TB); Zu Mommsen ist intensiv geforscht worden. Hier seien nur die drei wichtigsten einführenden Werke genannt: Alfred Heuss: Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, Kiel 1956, Neudruck: Stuttgart 1996;Joachim C. Fest: Wege zur Geschichte. Über Theodor Mommsen, Jacob Burckhardt und Golo Mann, 2. Aufl., Zürich 1993, S.27-70; Stefan Rebenich: Theodor Mommsen. Eine Biographie, München 2002.
Bildquellen: Mommsen 1880: Schiller Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv, Marbach; Geburtshaus: Stadt Garding; Familie: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung; Prätorianer: Mertens Illustrierte Weltgeschichte, Berlin, Verlag Peter J. Oestergaard; Im Arbeitszimmer: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (SHLB); Resignation: Schiller Nationalmuseum/Deutsches Literaturarchiv, Marbach