Am Anfang war die Not

Noch während des Zweiten Weltkrieges setzte mit Evakuierten aus den zerbombten Großstädten der erste Zustrom von Menschen nach Schleswig-Holstein ein. Das Bild entstand am 26.7.1943 auf dem Bahnhof von Heide/Holstein.
Noch während des Zweiten Weltkrieges setzte mit Evakuierten aus den zerbombten Großstädten der erste Zustrom von Menschen nach Schleswig-Holstein ein. Das Bild entstand am 26.7.1943 auf dem Bahnhof von Heide/Holstein.

Mit dem Ziel, „Lebensraum“ zu erobern, hatte Adolf Hitler die Deutsche Wehrmacht 1939 in den Krieg geschickt. Drei Jahre später begann der Rückzug, 1944 erreichte die Rote Armee Deutsches Gebiet, begann die Flucht von Millionen nach Westen. Mit 700 Schiffen evakuierte die Marine allein in den letzten vier Kriegsmonaten über zwei Millionen Menschen über die Ostsee. Viele davon kamen in Schleswig-Holstein an. Weil auch von Westen nun die Alliierten einmarschierten, drängten immer mehr Soldaten und Flüchtlinge nach Norden, nach Schleswig-Holstein. Über 200.000 Menschen waren schon seit 1943 aus den zerbombten Städten in die Landgebiete nördlich Hamburgs gebracht worden. Im Frühjahr und Sommer 1945, im Zuge des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches, gelangten Hunderttausende von Flüchtlingen und Vertriebenen in Städte und Dörfer. Allein von Anfang März bis Ende Juni waren es fast 700.000. Als die Waffen schwiegen, internierten die britischen Besatzungstruppen darüber hinaus über eine Million Wehrmachtssoldaten in den Sperrgebieten „G“ (Eiderstedt und Dithmarschen) und „F“ (Ostholstein). Die ehemaligen Soldaten wurden bis April 1946 aus der Wehrmacht entlassen und parallel dazu die Internierungslager aufgelöst. In Lagern blieben noch viele der über 200.000 ehemalige Fremd- und Zwangsarbeiter (Displaced Persons). Als Oktober 1946 zum ersten Mal nach dem Krieg gezählt wurde, lebten in Schleswig-Holstein (ohne die Displaced Persons) 2,6 Millionen Menschen, rund eine Million mehr als vor 1939. Rechnet man die Kriegstoten ab, bedeutete das: auf vier Einheimische kamen drei Hinzugezogene (Niedersachsen 2:1;Bayern 3:1). Kein anderes Land der westlichen Zonen hatte einen so großen Zuzug zu verzeichnen. Die ersten Jahre nach dem Krieg waren für die Menschen in Schleswig-Holstein vor allem durch Entbehrungen geprägt. Dies galt in besonderer Weise für die Flüchtlinge und Vertriebenen. Ihr Alltag war bestimmt vom Wohnraummangel, der Sorge ums Essen und der Suche nach Arbeit. Die Integration der Flüchtlinge sollte zur größten sozialen Aufgabe für das neue Bundesland werden.

Wohnen

Nissenhütte in Bredstedt 1955. Die in Kanada erfundenen Baracken aus gebogenem Wellblech kamen mit den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland. Obwohl in Schleswig-Holstein nicht viele Nissenhütten aufgebaut wurden, sind sie zu einem Symbol der Notzeit nach dem Krieg geworden.
Nissenhütte in Bredstedt 1955. Die in Kanada erfundenen Baracken aus gebogenem Wellblech kamen mit den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland. Obwohl in Schleswig-Holstein nicht viele Nissenhütten aufgebaut wurden, sind sie zu einem Symbol der Notzeit nach dem Krieg geworden.

Mit Ausnahme der großen Städte hatte der Krieg im Norden kaum Wohnraum zerstört. Die vier kreisfreien Städte (Flensburg, Kiel, Lübeck, Neumünster) nahmen in den ersten Jahren nur ein Fünftel der Flüchtlinge auf. Zwischen den Landkreisen gab es ebenfalls Unterschiede. Die Einwohnerzahl des Kreises Eckernförde oder Stormarn (Rekord die Gemeinde Großhansdorf, wo auf 1.500 Einheimische 3.500 Flüchtlinge kamen) verdoppelte sich, in Rendsburg oder auf Eiderstedt betrug der Zuwachs „nur“ rund 65 Prozent. Erst im Laufe der Zeit kam es zu einem Ausgleich. Der anhaltende Zustrom von Flüchtlingen stellte an Quartiergeber und Quartiernehmer immer neue Anforderungen. Es mussten nicht nur Zimmer und Wohnungen abgegeben werden, Küchen und Klos waren gemeinsam zu nutzen, die Atmosphäre war gereizt und führte oft zu Streit. Ein weiteres gravierendes Problem war, daß in vielen abgetretenen Räumen oder Notunterkünften kein Ofen stand und Kamine fehlten. „Brennhexen“ wurden aufgestellt, Öfen und primitive Herde in einem. Glücklich, wer ein Stück Ofenrohr ergatterte, um den Rauch ins Freie zu führen. Warm war es dann jedoch noch nicht. Kohle und Holz waren knapp und teuer. Wo es möglich war, kam deshalb Torf wieder als Heizmaterial zu Ehren. Die Unterbringung der Flüchtlinge wurde zur zentralen Belastungsprobe im Zusammenleben mit den Einheimischen.

Brennhexe
Brennhexe

Neben dem Privat-Wohnraum fanden die Flüchtlinge und Vertriebene in Sammellagern Unterkunft. Am 1.4.1950 gab es davon noch 728, die mit 127.756 Menschen belegt waren. Das Lagerleben bedeutete für die Bewohner Einschränkungen vielerlei Art. Ein Blick in die Lagerordnung eines Barackenlagers in Heide belegt das: Es war vorgeschrieben, die „Stuben bis spätestens 10 Uhr aufgeräumt und möglichst naß aufgewischt zu haben“, Pläne regelten den Zugang zum Waschraum, und Besuch im Lager war nur von 9 bis 21 Uhr erlaubt. Zudem waren die Lager in den allermeisten Fällen für eine Dauerwohnnutzung ungeeignet. Erst Anfang der 1950er Jahre gab es wieder Kapital und Baustoffe. In der jungen Bundesrepublik kam der Wohnungsbau in Gang. In vielen Orten Schleswig-Holsteins entstanden neue Siedlungen, in denen Flüchtlinge und Vertriebene ein neues Zuhause fanden. Straßennamen wie Ostpreußenring oder Pommernweg weisen noch heute darauf hin.

Versorgung

Mit Lebensmittelkarten sollte die Versorgung der Menschen organisiert werden. Theoretisch standen Erwachsenen 1.200 Kalorien pro Tag zu.
Mit Lebensmittelkarten sollte die Versorgung der Menschen organisiert werden. Theoretisch standen Erwachsenen 1.200 Kalorien pro Tag zu.

In den ersten Jahren nach dem Krieg war für viele Menschen in Schleswig-Holstein Hunger ein ständiger Begleiter, weil die Rationen auf den Lebensmittelkarten nicht reichten. Schrebergärten wurden neu angelegt, um den Flüchtlingen zu helfen, sich selbst zu versorgen. „Organisieren“ und Besorgen wurden zur Überlebensnotwendigkeit. Der Schwarzmarkt, Erntearbeit und das „Nachstoppeln“ bereits abgeernteter Felder boten die Chance, an Lebensmittel zu gelangen. Es mangelte auch an Kleidung, vor allem an warmer. So wurde Wolle von den Zäune gesammelt und versponnen. Aus alten Uniformen, Decken, Bettzeug entstanden neue Anzüge und Kleider.

Arbeitsplätze

Die Herkunft der Flüchtlinge und Vertriebenen. Mit einem Anteil von jeweils einem Drittel bildeten die Ostpreußen und die Pommern die stärksten Gruppen.
Die Herkunft der Flüchtlinge und Vertriebenen. Mit einem Anteil von jeweils einem Drittel bildeten die Ostpreußen und die Pommern die stärksten Gruppen.

Für den Neuanfang brauchten die Flüchtlinge und Vertriebenen vor allem bezahlte Arbeit. Die war knapp, und gesucht war oft nicht das, was man in Ostpreußen oder Pommern gelernt hatte. Umlernen und annehmen, was sich bot, war so das Gebot der Stunde. Bei den 69.000 Flüchtlingen, die in der alten Heimat selbständig waren, dominierten landwirtschaftliche Berufe. Bis 1949 war nur ein Fünftel dieser Gruppe wieder Herr (oder Frau) im eigenen Betrieb. Maßnahmen wie das Flüchtlingssiedlungsgesetz und das sogenannte 30.000-Hektar-Abkommen, die den schleswig-holsteinischen Großgrundbesitz zur Abgabe von Land verpflichteten, halfen. Trotzdem führten 1958 lediglich 4.246 Vertriebene einen eigenen Land- und forstwirtschaftlichen Betrieb. Nur die Hälfte dieser Bauernstellen war über zehn Hektar groß. Leichter hatten es Handwerker. Mit der Reparatur von Gebrauchsgütern tat sich in der Notzeit ein weites Betätigungsfeld auf. Im Bereich der Handwerkskammer Flensburg etwa wurde von den 1946 zugelassenen 2.368 Betrieben mehr als die Hälfte von Flüchtlingen oder Vertriebenen geführt.

An Stellen für Angestellte und Arbeiter mangelte es in den ersten Jahren für alle. Doch die Flüchtlinge und Vertriebenen waren von Arbeitslosigkeit stärker als die Einheimischen betroffen. Um überhaupt wieder Fuß zu fassen, mußten viele Arbeit annehmen, für die sie überqualifiziert waren. Erst mit dem Beginn der 1950er Jahre veränderte sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Die Zahl der arbeitslosen Flüchtlinge sank zwischen 1951 und 1957 von 135.144 auf 22.143. Die Bevölkerung war dabei in den ersten Jahren weiter gestiegen. 1949 überschritt sie 2,7 Millionen. Schon im Jahr davor hatte die Landesregierung erkannt, die Probleme wären nur zu lösen, wenn eine halbe Million Flüchtlinge in anderen Bundesländern Lohn und Brot fände. Ein Plan zur Umsiedlung innerhalb der ehemaligen Westzonen war eine der ersten Maßnahmen der neuentstandenen Bundesrepublik. Bis 1960 zogen 400.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Schleswig-Holstein vor allem nach Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.

Objekt oder Subjekt

Das Verhältnis von Einheimischen und Flüchtlingen 1950.
Das Verhältnis von Einheimischen und Flüchtlingen 1950.

Die katastrophale Lage in Schleswig-Holstein nach dem Krieg machte Angst. Es wurde befürchtet, das Land würde mit den Lasten durch die Aufnahme so vieler Menschen politisch, wirtschaftlich und sozial nicht fertig. Der erste Oberpräsident Schleswig-Holsteins nach dem Krieg, Otto Hoevermann, warnte im Oktober 1945, die Kluft zwischen den Flüchtlingen und der eingesessenen Bevölkerung dürfte nicht größer werden. Anlass zu warnen gab es über die materielle Not hinaus. Es kam zu Reibereien, zu offenem Hass gegenüber den Fremden. Viele wollten nichts mit ihnen zu tun haben, fürchteten, Ostpreußisch und Pommersch würden das Plattdeutsche verdrängen, klagten über Hochzeiten zwischen den Eingesessenen und den Aufgenommenen. Zu Spannungen kam es auch im Zuge der Entnazifizierung. Weil Unterlagen fehlten, war es für die Menschen aus dem Osten oft leichter, sich zu entlasten. Im Landesteil Schleswig wendeten sich Einheimische massenhaft der dänischen Minderheit zu. Die Zahl ihrer organisierten Mitglieder stieg bis 1946 von 2.700 auf 62.000 an. Diese „Neudänische Bewegung“ setzte darauf, dass Südschleswig vom neu entstehenden Deutschland abgetrennt und die Flüchtlinge ausgewiesen würden. Um dem verbreiteten Unmut zu begegnen, sollten die Flüchtlinge in den Aufbau eingebunden werden. Ziel dieser Politik war auch, zu verhindern, das sich eigene Flüchtlingsparteien bildeten. 1945 hatte die Besatzer verboten, dass sich Flüchtlinge organisierten. 1948 wurden Vereinigungen von Flüchtlingen und Vertriebenen jedoch zugelassen. 1950 formierte sich der „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE). Im gleichen Jahr gewann er bei der Landtagswahl 23,4 Prozent der Stimmen. Es verbreitete sich die Angst, das Land würde bald von den Flüchtlingen regiert. Doch es kam anders. Neben dem BHE ging auch die als Gegenpartei nach dem BHE-Erfolg bei der Landtagswahl gegründete „Schleswig-Holsteinische Gemeinschaft“ (SHE) bald in der CDU auf. Statt der Radikalisierung eines Bevölkerungsteils gelang so das Zusammenfinden in einer „Notgemeinschaft“, wie Otto Hoevermann sie im September 1945 noch als Hoffnung für das Land beschrieben hatte. Dass dieser Prozess nur im Zusammenhang mit der allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungphase in der Bundesrepublik verstanden werden kann, schmälert die Leistung der Beteiligten nicht.

Martin Gietzelt / ju (TdM 1001/0721)

Quellen: Willy Diercks (Hg.), Anke Joldrichsen, Martin Gietzelt, „Flüchtlingsland Schleswig-Holstein – Erlebnisberichte vom Neuanfang“, 1998, Heide, Boyens, ISBN 3-8042-0802-9; Ulrich Lange (Hg.), Historischer Atlas Schleswig-Holstein, 1999, Neumünster, Wachholtz Verlag; SHG Statistisches Landesamt; Uwe Danker, Jahrhunderstory, Folge 6; Holger Piening, Als die Waffen schwiegen, 1998, Heide, Boyens,  ISBN 3-8042-0761-8

Bildquellen: Evakuierte: Stadtarchiv Heide; Nissenhütte: Bredstedter Archiv; Brennhexe / Lebensmittelkarte: Dithmarscher Landesmuseum, Meldorf; Herkunft: Grafik Statistisches Landesamt; Flüchtlinge und Einheimische: nachbearbeitete Grafik von Erwin Raeth aus Hans Carstensen, „Raumordnung und Landesplanung in Schleswig-Holstein“, 1967, Verlag Moritz Diesterweg