Verdrängte „Alltäglichkeit“ des Dritten Reiches
Was es heißt, zu verdrängen, lässt sich an kaum einem Beispiel so deutlich belegen wie an dem der Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges. Im Gegensatz zur Verfolgung und Vernichtung der Juden in der Zeit des Dritten Reiches war seit Beginn des Zweiten Weltkrieges der Einsatz von ausländischen Arbeitskräften aus den besetzten Gebieten im „Reich“ allgegenwärtig – auch und besonders in Schleswig-Holstein. Eine gesicherte Gesamtzahl existiert nicht. Doch eine Momentaufnahme vom 15.11.1943 gibt einen Eindruck. Knapp ein Fünftel der zivilen Arbeitskräfte im Deutschen Reich waren zu diesem Stichtag ausländische Arbeitskräfte. In Schleswig-Holstein lag die Zahl höher. Mit 128.320 Arbeitskräften stellten Zwangsarbeiter 24,2 Prozent, also knapp ein Viertel, der Arbeitskräfte in der Provinz. Elf von 41 Gauarbeitsamtsbezirken wiesen einen höheren Anteil auf. Spitzenreiter war Mecklenburg mit 35,4 Prozent. Insgesamt arbeiteten Ausländer in 33 Wirtschaftszweigen. Die meisten waren in Schleswig-Holstein in der Landwirtschaft eingesetzt (49.626), gefolgt vom Maschinen-, Kessel-, Apparate – und Fahrzeugbau (20.953), der Eisen-, Stahl- und Metallverarbeitung (11.066), dem Bau und Nebengewerken (10.538) sowie der chemischen Industrie (6.205). Auch bei der Produktion von Nahrungsmitteln (4.335), für die Wehrmacht und den Arbeitsdienst (3.797), die Reichsbahn (2.996), im Handel, Bank-, Börsen- und Versicherungswesen (2.824) und als häusliche Hilfen (1.583) mussten Männer und Frauen Zwangsarbeit leisten.
Firmen wollten Zwangsarbeiter
Zwangsarbeit waren in jeder Gemeinde, den meisten Branchen, dem kirchlichen und öffentlichen Dienst sowie in vielen Haushalten anzutreffen. Jedoch erst im Zuge der Diskussion über eine Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter*innen in den vergangenen Jahren wurde das Thema von einer breiten Öffentlichkeit wieder wahrgenommen, wobei anfangs nicht zwischen der Arbeit von Häftlingen in Konzentrationslagern und dem allgemeinen Einsatz von Zivilpersonen in Wirtschaftsbetrieben getrennt wurde. Die Unternehmen in Schleswig-Holstein haben sich bisher in den wenigsten Fällen zu ihrer historischen Verantwortung bekannt. Stattdessen wird die Beschäftigung von Zwangsarbeitern von vielen Firmen verschwiegen, heruntergespielt oder beschönigt. So entpuppen sich in manchen Selbstdarstellungen „zugewiesene“ Ausländer bei näherem Hinsehen als „angeforderte“ Arbeitskräfte. Die Arbeitgeber waren in diesen Fällen nicht verpflichtet, ausländische Arbeitskräfte zu beschäftigen – sie wollten sie haben. Die Gründe dafür sind so vielfältig, dass „präzise Festlegungen wohl nur für die spezifischen Verhältnisse in den einzelnen Betrieben und Abteilungen zutreffen“ (Ulrich Herbert). Ein besonderer und bisher fast gar nicht beachteter Aspekt der Zwangsarbeit stellt die Verquickung schleswig-holsteinischer Firmen mit der Ausnutzung der Ressourcen und Arbeitskräfte in Gebieten dar, die von der Wehrmacht besetzt waren. So übernahm z.B. die Ahlmann Carlshütte (Büdelsdorf) in Saporoshje/Ukraine und Uman/Ukraine „Patenschaften“ für Betriebe; die Deutsche Werke Werft (Kiel) engagierte sich entsprechend in Gdingen (Gotenhafen).
Wege in die Zwangsarbeit
Die Wege in die Zwangsarbeit und nach Schleswig-Holstein waren verschieden. Ein Teil der Ausländer wurde gegen seinen Willen zur Arbeit im Deutschen Reich genötigt, andere kamen freiwillig ins Deutsche Reich und gerieten dort in das für sie meist unerwartete Zwangssystem. Auch Kriegsgefangene wurden eingesetzt. Obwohl ihr Arbeitseinsatz generell zulässig war, widersprachen ihre Arbeits- und Lebensbedingungen oft dem geltenden Völkerrecht. So war es unter anderem verboten, dass Kriegsgefangene in der Rüstungsindustrie eingesetzt wurden. Und nicht nur dagegen wurde verstoßen. In anderen Fällen wurden Gefangene oft unter Zwang entlassen und danach zu „Zivilarbeitern“, durften aber nicht in ihre Heimat zurückkehren. Zu den Zwangsarbeitern gehörten auch Häftlinge aus den KZ-Nebenlagern (Konzentrationslagern) sowie ausländische Staatsbürger, die in ihren Heimatländern unter anderem wegen Widerstands gegen die deutschen Besatzer zu Haftstrafen verurteilt und danach ins Reich deportiert wurden. Fritz Sauckel (*1894-1946†), war von 1942 an der „Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz“, räumte am 1.März 1944 auch ein: „Von den fünf Millionen ausländischen Arbeitern, die nach Deutschland gekommen sind, sind keine 200.000 freiwillig gekommen.“ Selbst diese wenigen freiwillig ins Deutsche Reich gekommenen Arbeitskräfte waren vor Überraschungen nicht sicher. So konnte es einem Freiwilligen aus Ostpolen im Deutschen Reich passieren, dass er als in der Hierarchie ganz unten stehender „Ostarbeiter“ eingestuft wurde. Der Pole Pytlarcyk, der sich 16-jährig freiwillig gemeldet hatte, berichtet über seine Zeit in Ulsnis, ihm sei es nicht schlecht ergangen, „weil ich mich konsequent an die Vorschriften hielt“. Andere Polen aus Ulsnis erlebten anderes, einer von ihnen verstarb im „Arbeitserziehungslager Nordmark“ (AEL) in Kiel.
Die Hierarchie der Unterdrückung
Rassische, ethnische sowie auch politischen Kriterien führten zu einer Hierarchie unter den Zwangsarbeitern, die entscheidend dafür wurde, wie sie leben konnten. Sie wirkte sich selbst noch auf die Qualität der medizinischen Betreuung (Zwangsarbeit und Krankheit) und die Qualität des Essens aus. Einige Beispiele verdeutlichen die unterschiedliche Behandlung: Ein dänischer Arbeiter durfte sich etwa frei bewegen, war jedoch gezwungen, seinen Arbeitsvertrag einzuhalten. Tat er das nicht, bestand die Gefahr einer drastischen Strafe. Tschechen, die mit falschen Versprechen ins Reich gelockt worden waren und dort forderten, dass den Vorschriften des Arbeitsvertrages genügt wurde, drohte die Gestapo. Franzosen konnten die Sozialleistungen in Frankreich gestrichen werden, wenn sie sich weigerten, in Deutschland zu arbeiten. Die Italiener genossen als Verbündete zunächst Vorteile. Nachdem Italien am 3.September 1943 das Bündnis mit Deutschland aufkündigte und seine Truppen sich den Alliierten ergeben hatten, wurden die italienischen Arbeiter und Kriegsgefangenen schlechter behandelt und der vollen Härte des Systems unterworfen. Am Ende dieser Hierarchie – Juden ausgenommen – rangierten Polen, darunter nur noch „Ostarbeiter“. Für Männer und Frauen aus Polen sowie die „Ostarbeiter“ gab es Sondervorschriften. Eine davon war, dass sie nach ihrer Herkunft gekennzeichnet wurden, was ihr Leben in Deutschland einschränkte und zusätzlich erschwerte. Besonders Polen und Bürger der Sowjetunion wurden massenhaft unter Zwang „angeworben“. Eine 1924 geborene Frau erinnert sich: „Im Juni des Jahres 1942 hüteten wir Kühe. Es kam ein Auto mit der Polizei und Beamten von Deutschland. Sie haben uns befohlen, sich ins Auto zu setzen. …. Auf dem Weg machten sie das ganze Auto voll mit Menschen und fuhren uns zum Bahnhof. In einem Transportwaggon saßen wir zwei Tage, bis er voll mit Menschen war. Dann fuhren sie uns weg, und niemand wußte wohin“. Die Fahrt ins Ungewisse endete in diesem Fall in Büdelsdorf.
Schikane und Milde
Gerichtsverfahren gegen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter fanden sowohl vor den Amtsgerichten, dem Sondergericht in Kiel als auch vor dem Reichsgericht statt. So wurden drei Franzosen, die bei der Deutschen Werke Werft in Kiel beschäftigt waren, vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und am 25.August 1944 hingerichtet. Ein Teil der Strafen wurde jedoch vorbei an den Gerichten durch die Betriebe, die Gestapo, die örtlichen Polizeidienststellen und andere Träger staatlicher Gewalt direkt vollzogen. Mit öffentlichen Hinrichtungen, dem Überweisen in Konzentrationslager oder durch das Einweisen in das Arbeitserziehungslager Nordmark in Kiel sollte die Arbeitsdisziplin aufrechterhalten und sollten die Zwangsarbeiter eingeschüchtert werden. Die Lebensumstände der Zwangsarbeiter waren einerseits durch Erlasse geregelt, hingen jedoch auch stark von den örtlichen Gegebenheiten ab. Nicht alle Vorschriften waren vor Ort bekannt oder wurden eingehalten. Dies geschah in Einzelfällen zum Vorteil, aber vielfach auch zum Nachteil der Betroffenen. Selbst bei der Umsetzung der Erlasse existierten Ermessensspielräume: So waren beispielsweise die Betreiber von Zwangsarbeiterlagern aufgefordert, auf Desinfektion und Sauberkeit zu achten. Niemand verpflichtete sie aber, dieses schikanös, zum Beispiel nachts im Winter, zu veranstalten: „Nachts wurden wir oft für eine Kontrolle oder eine Desinfektion geweckt“ (aus den Erinnerungen einer Ukrainerin). Oder: „Im tiefsten Winter musste unsere Baracke ausgegast werden. Bei einer Temperatur von fünfundzwanzig Grad unter Null mussten die Bewohner zusehen, wie sie die Nacht verbrachten, weil das Gas auch in der Nacht sein Werk an den Wandläusen verrichten sollte“ (A.A. Steijn in einem Bericht über das Lager der Ahlmann Carlshütte in Büdelsdorf). Wie unterschiedlich die Schicksale waren, belegen zwei Begebenheiten. In Rendsburg heiratete 1945 eine ehemalige Zwangsarbeiterin in die Familie ihres Arbeitgebers ein, während einen halben Kilometer weiter – in Osterrönfeld – ein Arbeitgeber und seine Angehörigen nach der Befreiung durch den Zwangsarbeiter erstochen wurden. Diese Ereignisse zeigen, dass die Bandbreite der Behandlung von Zwangsarbeitern von sehr guten Beziehungen hin bis zu Situationen reichte, die denen im Konzentrationslager vergleichbar waren.
Wohnen in Lagern und …
Die Unterbringung der Arbeitskräfte erfolgte zum überwiegenden Teil in Lagern – nicht ausschließlich in Baracken sondern auch in Gastwirtschaften, Schulräumen, Scheunen, Schuppen, Ställen und so weiter. So breit wie der Arbeitseinsatz erfolgte, so unterschiedlich waren die Betreiber der Lager. Einige Beispiele: Stadtwerke (Lübeck), Reichsbahn (Glückstadt), Kreiskohlenhandelsverband (Rendsburg), Deichbauamt Niebüll (Dagebüll), Remonteamt (Grabau), Bezirksbauernschaft (Elmenhorst), Dynamit AG (Geesthacht). Die Zahl dieser Lager dürfte die tausend überschritten haben, so dass im Verlauf des Zweiten Weltkrieges Schleswig-Holstein flächendeckend belegt war. Auf zahlreichen Friedhöfen im Lande finden sich noch heute Gräber von Zwangsarbeitern. Dieses Netz der Lager ist erst in den vergangenen Jahren besser, jedoch noch lange nicht ausreichend erforscht worden. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Zeit des Leidens für die Zwangsarbeiter noch nicht vorbei. Besonders Polen aus dem von der UdSSR annektierten Teil ihrer Heimat und Sowjetbürger mussten als Displaced Persons oft noch über Jahre ihr Leben in Lagern fristen. Auch dieser Teil der Geschichte ist erst in den vergangenen Jahren aufgearbeitet worden.
Rolf Schwarz (TdM 0102/0721/0722)
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Quellen/Literatur: Gerhard Hoch, Rolf Schwarz, Verschleppt zur Sklavenarbeit, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Schleswig-Holstein, Alveslohe und Nützen, 1985; Ulrich Herbert, Fremdarbeiter, Politik und Praxis des Ausländereinsatzes in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin, 1985, Neuauflage Bonn 1999, Dietz Verlag, ISBN 3-8012-5028-8; Catalogue of Camps an Prisons in Germany and German-Occupied Territories 1939 – 1945 (CCP), neu herausgegeben von Martin Weinmann unter dem Titel „Das nationalsozialistische Lagersystem, Frankfurt a.M. 1990; 125 Jahre Carlshütte, Rendsburg, 1952; Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich Nr. 1, 1944
Bildquellen: Richtfest Ahlmann: LASH 406.10 Nr. 2284; Franzosen und Belgier: Archiv Rolf Schwarz; Grabstein, Abzeichen, Arbeitskarte: Foto Rolf Schwarz