Von der Sturmflut bis zum ABC-Fall waren 1978 alle Eventualitäten im Katastrophenschutzgesetz Schleswig-Holsteins bedacht. Nur eine fehlte: die Möglichkeit, dass das Land unter Schnee ertrinken konnte. Am Donnerstag, dem 28.Dezember 1978, pfeift aus Skandinavien ein kalter Ost über das Land. Acht bis zehn Beaufort, in Böen bis 12. Anlass für das Deutsche Hydrographische Institut (DHI), eine Sturmflutwarnung herauszugeben. Man fürchtet eines der seltenen Ostseehochwasser mit bis zu 1.50 Meter über Normalnull. Das Wasser kommt, doch – noch unerkannt – braut sich Schlimmeres zusammen. Von Osten schieben sich Luftmassen mit bis zu 47 Grad Minus über nur langsam zurückweichende, feuchtwarme Atlantikluft. Eine bis dahin unbekannte Wettersituation, die deshalb ohne jegliche Warnung das Land nördlich einer Linie von Lauenburg bis Eiderstedt im Chaos versinken lässt. Das Aufeinandergleiten der Luftmassen führt zuerst zu Regen. Auf dem kaltem Boden gefriert der zu Eis. Auch auf den Freileitungen. Zwischen zwei Masten hängt an 70 Meter Draht plötzlich eine Eislast von drei bis vier Zentnern. Erst reißen Drähte, dann brechen Masten.
Der Norden ohne Strom
In 66 von 1.200 Gemeinden im Versorgungsgebiet der Schleswag (Elektrifizierung) fällt der Strom aus, 60 davon liegen in Angeln. Die Post schaltet die Telefone ab. Nach dem Eis kommt der Schnee. Freitag, 29. Dezember 1978. Das Verteidigungskommando 111 der Bundeswehr, zuständig für den Landesteil Schleswig, löst Alarmstufe „Sturmvogel II“ aus. Die Hälfte aller Soldaten muss sich in Bereitschaft halten. 11.28 Uhr verkündet der Landrat den Katastrophenalarm für Schleswig-Flensburg. Bis zu 18 Hubschrauber versuchen, im Schneesturm Reparaturteams zu den zerstörten Stromleitungen zu bringen. Doch der Schnee türmt sich inzwischen schon meterhoch an den Knicks, begräbt viele Kabel und Maststümpfe. Eine „Knopfdruckgesellschaft“ im Ausnahmezustand: Ölheizungen fallen aus, Schweine kollabieren in den Ställen, und an die Maschine gewöhnte Kühe lassen sich nicht mehr von Hand melken. Alte Öfen werden reaktiviert, das Batterieradio kommt zu neuen Ehren, und Nachbarschaftshilfe wird neu entdeckt.
Noch mehr Schnee
Immer mehr Schnee wird vom Sturm zu gewaltigen Wehen aufgetürmt. Am Sonnabendmorgen, 30.12., löst Nordfriesland Katastrophenlalarm aus, die Landkreise Rendsburg-Eckernförde, Ostholstein, Plön, Dithmarschen und die Stadt Flensburg folgen. Die Fördestadt wird vollkommen abgeschnitten, bis zu 1.200 Menschen werden in Notquartieren untergebracht. In Kiel sitzen 500 Menschen fest. Von allen Städten trifft es Husum am ärgsten. In den engen Straßen türmt sich der Schnee, nichts geht mehr. Im Bahnhof steckt ein Zug fest. 400 Menschen kämpfen sich die wenigen Meter durch den Sturm zur Kreisberufsschule durch den hohen Schnee. Nur noch die dreiachsigen Zehntonner der Luftwaffe kommen mit Schneeketten meterweise voran, um Matratzen und Lebensmittel in die Schule zu bringen. Die Landräte verhängen Fahrverbote. Erst am 8. und 9.1.1979 kann in Husum der Verkehr wieder freigegeben werden. Schlimmer jedoch als in den Städten ist es auf dem flachen Land. Besonders stark betroffen ist Fehmarn. Während sich die Menschen für die Festtage mit Lebensmitteln eingedeckt haben, fehlt es vielerorts an Kraftfutter für das Vieh. Auch kann die Milch in vielen Teilen des Landes nicht mehr abgeholt werden. Viele Bauern lassen sie auf Plastikplanen im Schnee gefrieren. Sobald es irgend geht, rücken die Helfer aus. 3.000 Soldaten, 4.000 Polizisten, 15.000 Feuerwehrleute, 1.200 Mitarbeiter der Straßenbauämter, THW – insgesamt 30.000 Helfer kommen den Menschen mit Panzern, Schaufelladern, Geländefahrzeugen und aus der Luft zur Hilfe. Sie suchen auch nach den Menschen, die in ihren Autos auf den Straßen vom Schnee überrascht wurden. Bei Schuby wird ein älteres Ehepaar nach 67 Stunden Gefangenschaft im Schnee aus ihrem Auto geborgen. Auch Tote gibt es. Babies kommen in Krankenwagen zur Welt, Hubschrauber fliegen Hochschwangere in Krankenhäuser. Die dort geborenen Kinder machen als „Helibabies“ Schlagzeilen.
Das Leben normalisiert sich
Erst einige Tage nach Neujahr 1979 wurde aus dem Winterdrama wieder ein Schneeidyll. Schon am 1.Januar 1979 waren 80 Prozent der Stromleitungen wieder geflickt. Nun wird an der Ostsee auch sichtbar, welche Schäden die Sturmflut angerichtet hatte. Nur wenige Schlaglichter einer langen Liste: Bei Olpenitz war der Deich gebrochen, in Schönhagen 15 Meter der Steilküste abgerutscht, Maasholm und Arnis mußten über See versorgt werden. In einer Regierungserklärung am 30.1.1979 spricht Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg (*1928-2001†) von einem Unwetter, wie es dies in dieser Form noch nicht gegeben hätte. Erste Priorität sei es gewesen, Menschen zu retten, die zweite, das Stromnetz wiederherzustellen, und die dritte, die Verkehrswege wieder zu räumen. Das Land stellte knapp 56 Millionen Mark Sondermittel bereit, der Bund verzichtete auf die Kosten für den Einsatz von Luftwaffe, Heer und Grenzschutz.
Deutsch-dänisches Nachspiel
Nördlich der Grenze gab es etwas weniger Schnee, dafür jedoch um so mehr Kopfschütteln und Ärger über die Nachbarn in den deutschen Grenzkreisen. Ohne Katastrophenalarm, ohne Stäbe und militärischen Beistand hatten die beauftragten Kiesunternehmer, gemeinsam mit der unteren technischen Verwaltung und der örtlichen Polizei frühzeitig geräumt, sich darauf beschränkt, nur die Straßen freizuhalten, die wichtig waren, und alles mit Gelassenheit durchgestanden. Völlig fassungslos hatte man in der Amtskommune Sønderjylland verfolgt, dass die Deutschen ihre Grenzübergänge schlossen. Nach dänischen Verständnis ist es unmöglich, eigenen Staatsbürgern die Rückkehr in ihr Land zu verwehren. Gleichwohl gab es wie südlich der Grenze auch nördlich Auffanglager für die im Schnee Gestrandeten.
Jahrhundertereignis die Zweite
Was niemand für möglich gehalten hatte, passierte schon sechs Wochen später erneut. Am Dienstag, 13.2.1979, führte eine fast identische Wetterlage wie die Ende 1978 zu einer Neuauflage des großen Schnees. Betroffen dieses Mal ein Streifen zwischen Dänemark bis tief hinein nach Niedersachsen. Die ganze Nordseeküste zwischen dem dänischen Esbjerg und dem niedersächsischen Wattenmeer versank erneut im Chaos. Städte wie Husum und Schleswig blieben beim zweiten Mal verschont. Die Stromleitungen hielten diesmal besser, nur 4.000 und nicht 15.000 Menschen saßen im Dunkeln. Dafür waren die Inseln weitaus härter betroffen. Wieder steckten Züge in Schneewehen fest. Zwischen Ascheberg und Preetz mussten 40 Bahngäste von Hubschraubern aus der Luft per Seilwinde abgeborgen werden. Acht weitere „Helibabies“ kamen nun zur Welt. Auch auf dem Nord-Ostsee-Kanal ging dieses Mal nichts mehr. Die Skandinavienfähren in Kiel und Lübeck blieben zum Teil im Eis stecken. Doch es wurden auch aus dem ersten großen Schnee schon Lehren gezogen. Die Grenzübergänge blieben offen, und wie in Dänemark zuvor wurde früh entschieden, welche Straßen geräumt und welche gesperrt wurden. Die letzten sechs Wochen waren zudem auch auf vielen Höfen genutzt worden, um Notstromaggregate und Plastiksäcke zum Einlagern von Milch zu beschaffen.
War es eine Katastrophe?
Von Dienstag bis Sonnabend trieb der Sturm beim zweiten Mal den Schnee über das Land. Als die Lage sich normalisiert hatte, begann eine Diskussion darüber, ob man von einer Katastrophe sprechen dürfe oder müsse. Die Debatte blieb eine theoretische. Die Schleswig-Holsteiner hatten längst beschlossen, von der „Schneekatastrophe“ zu sprechen. Selbst in Erinnerung der Hamburgflut von 1962 wirkten die beiden großen Schneeinbrüche als Katastrophe, weil erstmals ein hochmobiles und technikabhängiges Land über Nacht lahmgelegt wurde.
Werner Junge (TdM 1201/0521)
Quelle: Schneewinter 1978/79: Helmut Sethe, Der große Schnee, der Katastrophenwinter 1978/79, Husum, 1979, Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, ISBN 3-88042-074-2
Bildquellen: Alle Bilder von Gerhard Paul, Husum; Grafik: Husumer Nachrichten, aus „Der Große Schnee“ s.o.