Auch mit Flugzeugen flüchteten Nazigrößen in den letzten Kriegstagen nach Flensburg – der Platz Schäferhaus wurde voll

Der Begriff „Rattenlinie“ wurde erst in den 1980er Jahren geprägt. Er beschrieb zunächst die Flucht hochbelasteter Nazis über Italien, den Vatikan oder Spanien nach Südamerika. Erst später wurde durch neue Quellen klar, dass es auch eine „Rattenlinie Nord“ gab. Sie führte nicht nach Südamerika, sondern über Flensburg zurück ins Nachkriegsdeutschland. Schleswig-Holstein war am Ende des Zweiten Weltkrieges Ende April 1945 neben Teilen Bayerns das einzige verbliebene unbesetzte reichsdeutsche Gebiet. Es wurde so zu einem der größten Fluchtziele für NS-Verbrecher. Auch wenn die „Alpenfestung“ und die „Festung Nord“ nur noch Produkte der Nazi-Propaganda waren, boten sie die letzten Rückzugsgebiete für die Staats- und Militärführung.

Fluchtpunkt Flensburg

Zum Ende des Krieges verdoppelte sich die Einwohnerzahl Flensburgs innerhalb weniger Tage auf wahrscheinlich mehr als 150.000. Schon seit Ende 1944 rollten die Trecks der Flüchtlinge in den Norden. Hinzu kamen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. In den ersten Maitagen 1945 erreichten dann Züge mit Häftlingen aus dem KZ-Neuengamme die Stadt. Im Hafen legten zugleich Schiffe mit ausgemergelten, zu Tode erschöpften KZ-Häftlingen aus dem Osten an. SS-Reichsführer Heinrich Himmler (*1900-1945†) hatte das angeordnet. Sein Plan war es, die KZ-Häftlinge als Geiseln zu nutzen.

Heinrich Himmlers letzter Plan

Nach dem Selbstmord von Adolf Hitler (*1889-1945†) am 30. April 1945 gab es keinen Plan, aber mit Flensburg zumindest noch ein Ziel. Dort kam Heinrich Himmler mit 150 Getreuen in Limousinen und Bussen vollgepackt mit Vorräten, Gold und Geld am 2. Mai 1945 an. Nach seinen gescheiterten Versuchen, mit den Alliierten separat zu verhandeln und durch das Freilassen skandinavischer KZ-Häftlinge seine Haut zu retten, war er bei Hitler in Ungnade gefallen. Am 3. Mai trafen das Oberkommando der Wehrmacht und Hitler-Nachfolger Karl Dönitz (*1891-1980†) in Flensburg ein und bezogen Quartier in Mürwik. Himmler sprach bei ihm vor, buhlte um seine Gunst. Er hoffte nun durch das Freilassen von KZ-Häftlingen die Alliierten zu gewinnen. Am 6. Mai, zwei Tage vor der bedingungslosen Kapitulation, blitzte Himmler bei Dönitz endgültig ab. Damit musste ihm klar sein: Er und seine SS-Führer konnten nur noch untertauchen. 

Heinrich Himmler

SS-Größen werden einfache Soldaten

Schon am 3. Mai hatte Himmler den Organisatoren des Holocausts geraten, sich Dokumente zu besorgen, die sie zu einfachen Wehrmachtsoldaten machten. Diese Identitätswechsel hatte SS-Standartenführer Hans Hinsch in seiner Funktion als Flensburger Polizeipräsident schon organisiert. Im Polizeipräsidium Norderhofenden 1 gab es neue Papiere. Aus SS-Standartenführern wurden so serienweise einfache Feldpolizisten, Unteroffiziere der Wehrmacht oder Maate der Marine. Geld gab es dazu und in Mürwik dann die zur neuen Identität passende Uniform. Gebrauchte Stücke wurden bevorzugt. Die Gruppe der schwer belasteten, die nach Flensburg geflüchtet war, wird auf 3.000 Personen geschätzt. Himmler hatte ihnen geraten, sich nach Dänemark abzusetzen. Dem folgten jedoch die Meisten nicht und gingen nach Süden. Auf dem Marsch wurden der überwiegende Teil von den Briten gefangen genommen. Sie landeten damit meist zunächst in den Sperrgebieten Eiderstedt und Fehmarn/Ostholstein. Viele von ihnen wurden schon im Sommer 1945 als einfache, unbelastete Soldaten entlassen. 

In Krusau an der dänischen Grenze mussten die zurückkehrenden Soldaten ihre Waffen abgeben. Innerhalb weniger Tage fischten die Briten 2.400 SS-Angehörige aus dem Strom, die sich als Wehrmachtsoldaten „getarnt“ hatten

Jagd auf die Nazis

Am Tag der Kapitulation, am 8. Mai 1945, erreichten die Briten Flensburg. Sie wussten, dass viele Nazi-Verbrecher versuchten, in der zerfallenden Wehrmacht unterzutauchen. An der Grenze zu Dänemark filterten sie innerhalb weniger Tage 2.400 als Wehrmachtssoldaten getarnte SS-Leute aus dem nach Deutschland zurückflutenden Soldatenstrom aus Norwegen und Dänemark heraus. Der Mehrheit derjenigen, die sich in Flensburg eine neue Identität besorgt hatten, gelang jedoch der Trick und sie entkamen. Viele von ihnen tauchten später in der neuen Bundesrepublik wieder auf, nicht wenige erlangen erneut führende Positionen. Sie konnten sich auf ein Kartell schweigender Mitwisser verlassen. (siehe auch Heyde-Savade)

Flucht über die Elbe

Als die Briten am 8. Mai in Flensburg einmarschierten, hatte Heinrich Himmler sich schon in das nahe Dorf Kollerup abgesetzt. Er rasierte den schmalen Schnäuz und machte sich mit wenigen Getreuen als einfacher Feldgendarm auf den Weg nach Süden. Die Briten versperrten seine Flucht über den Nord-Ostsee-Kanal. Himmler bestach deshalb einen Fischer und ließ sich von ihm stattdessen über die Elbe setzen. Am 20. Mai wurde er bei Lüneburg kontrolliert. Die Papiere dieses Feldpolizisten Heinrich Hitzinger fielen den Soldaten auf, sie waren einfach zu neu, zu frisch. Hitzinger wurde als Himmler enttarnt. In einem seiner Zähne war eine Zyankali-Kapsel versteckt. Diese zerbiss er während eines Verhörs am 23. Mai 1945. Am selben Tag wurde die Regierung Dönitz in Flensburg verhaftet.

Der festgenommen Rudolf Höß wird an die Polen übergeben

Nachts in Gottrupel

Fast ein Jahr später, am 11. März 1946, um 23 Uhr, war plötzlich Lärm auf dem Hof der Hansens in Gottrupel bei Flensburg. Waren es Polen, ehemalige Zwangsarbeiter, die plündern wollten (Displaced Persons)? Doch dann rissen britische Soldaten die Türen auf. Auch die der Knechtekammer. Dort schlief Franz Lang. Der ehemalige Marinemaat half auf dem Hof ohne Bauern. Hansens beschrieben ihn als fleißig, nett und kinderlieb. Nun prügelten Gewehrkolben auf ihn ein. Blutüberströmt stand er im Unterzeug, als ihm der Ehering vom Finger gerissen wurde. Captain Hans Alexander las die Gravur: Rudolf und Hedwig. Der britische Nazijäger war am Ziel, er hatte den KZ-Kommandanten von Auschwitz, er hatte Rudolf Höß gestellt. Dieser wurde an Polen ausgeliefert und nach einem Prozess am 6. April 1947 in Auschwitz vor seiner ehemaligen Kommandantenvilla mit Blick auf die Gaskammern gehenkt.  

Werner Junge (1121*)

Literatur: Gerhard Paul/Broder Schwensen, Mai 45 – Kriegsende in Flensburg, 2015 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte Bd. 80), ISBN 978-3-925856-75-4

Bilder: Vignette/Soldaten Krusau: 5. Army-Film & Phographic Unit, Noris; Flugplatz Schäferhaus 1945: Royal Airforce, Saidman; Heinrich Himmler: Wikicommons/BA,Bild 183-R99621/CC-BY_SA/WikiCommons; Übergabe Höß an die Polen: WikiCommons