Nach dem Ende des „Dritten Reiches“ gelang es auch Medizinern und Juristen, ihre NS-Vergangenheit zu leugnen oder zu verharmlosen. Prof. Dr. med. Werner Heyde – vor 1945 Ordinarius für Psychiatrie und Nervenheilkunde an der Universität Würzburg – war als so genannter Obergutachter im Rahmen der NS-Euthanasie für die Morde an über 80.000 Behinderten und Kranken verantwortlich. Er wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weltweit mit Haftbefehl gesucht. Es gelang ihm mit Hilfe von Juristen und Medizinern unter falschem Namen, jedoch im Grunde kaum getarnt, in Schleswig-Holstein eine neue Existenz aufzubauen. Er wurde Gerichtsgutachter und lebte unter dem Namen Dr. med. Fritz Sawade jahrelang unbehelligt in Flensburg. In Mediziner- und Juristenkreisen sprach sich seine wahre Identität bald herum; doch alle schwiegen. Dies wurde durch die gesellschaftspolitischen Verhältnisse in der Nachkriegszeit und ein Netz gegenseitiger Unterstützung seitens ehemaliger NS-Eliten begünstigt. Von 1950 bis zu seiner „Enttarnung“ im Jahre 1959 fertigte der ehemalige Euthanasie-Professor rund 7.000 Expertisen unter anderem für das Landessozialgericht, die Landesversicherungsanstalt und weitere Organisationen. Sein Einkommen ermöglichte ihm ein Leben in Luxus. Als der Gutachter aufgrund sich verstärkender Gerüchte um seine Person 1959 seine Approbationsurkunde vorlegen sollte, sah er keinen Ausweg, er verließ Schleswig-Holstein Anfang November 1959 fluchtartig. Am 12. November stellte er sich in Frankfurt/Main der Justiz. Die politische und strafrechtliche Aufarbeitung der Heyde/Sawade-Affäre war nur bedingt erfolgreich. Der vom schleswig-holsteinischen Landtag eingesetzte Untersuchungsausschuss brachte einiges Licht in das Dunkel dieser Affäre. Vieles blieb jedoch ungeklärt. Nur wenige Zeugen gaben ihr ganzes Wissen preis. Heyde alias Sawade wurde durch den Generalstaatsanwalt in Frankfurt/Main 1962 angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, „heimtückisch, grausam und mit Überlegung mindestens 100.000 Menschen getötet zu haben.“ Bevor die gerichtliche Verhandlung beginnen konnte, nahm sich Heyde am 13. Februar 1964 in der Untersuchungshaft das Leben.
Michael Legband (0601/0721)
Quelle: „Die Heyde/Sawade-Affäre“, Klaus-Detlev Godau-Schüttke, Nomus Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 1998, ISBN 3-7890-5717-7
Bildquelle: „Zweimal Unrecht“, Michael Legband, Boyens & Co, Heide, 1992