Dorothea Brede als junge Lehrerin

Die erste Bahnhofsmissionarin

Dorothea Brede (*1876–1958†) wuchs in Segeberg als Zweitälteste von fünf Geschwistern auf. Sie entstammte einer Lehrerfamilie und schlug selbst den Weg der Lehrerin ein. Mit 21 Jahren gründete sie 1897 im Rahmen ihres Engagements für den „Verein der Freundinnen junger Mädchen“ in Kiel die erste Bahnhofsmission in der preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Sie war Vorsitzende der Evangelischen Frauenhilfe, Teil der lokalen Frauenbewegung und wirkte bis in die 1950er Jahre.

Hilfe von Frauen für Frauen

In Folge von Industrialisierung, Urbanisierung und vermehrter Landflucht suchten im ausgehenden 19. Jahrhundert zehntausende junge Frauen in den westdeutschen Großstädten eine wirtschaftliche Perspektive. Damals warteten an den Bahnhöfen dubiose Geschäftemacher und Zuhälter. Deshalb gründeten sich die Bahnhofsmissionen, um Frauen vor sexueller Ausbeutung zu bewahren, sie in seriöse Arbeitsverhältnisse zu vermitteln und Rat und Halt in einer neuen Umgebung anzubieten. Zunächst engagierten sich ausschließlich Frauen als Funktionsträgerinnen und Helferinnen im Rahmen der Bahnhofsmissionsarbeit. Sie startete als Hilfe von Frauen für Frauen. Im Kaiserreich, das Frauen noch weitgehend vom öffentlichen Leben ausschloss, bot die christlich orientierte Vereinsarbeit Frauen eine Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe. Dies förderte das erstarkende politische Bewusstsein von Frauen, bevor auch für sie mit dem 30. November 1918 das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde. Unter der Klammer der Bahnhofsmission, die als erstes ökumenisches Arbeitsfeld gilt, wurde zudem auch über konfessionelle Grenzen hinweg zusammengearbeitet.

Frauenschutz unter kaiserlicher Ägide

Henriette von Esmarch leitete in Kiel die Vereine, die sich um junge Frauen kümmerten

Nach der Gründung der Bahnhofsmission in Kiel durch Dorothea Brede 1897 folgte 1908 die zweite in Schleswig-Holstein in Lübeck. Die ersten Trägervereine der Bahnhofsmission waren der „Verein der Freundinnen junger Mädchen“ und der „Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend“. Kaiserin Auguste Viktoria (*1858–1921†) unterstützte die Vereine als Schirmherrin. Die Kieler Ortsgruppe des „Vereins der Freundinnen junger Mädchen“ stand unter der Ägide der Tante der Kaiserin, Henriette von Esmarch (*1833–1917†). Als Dorothea Brede 1897 mit dem Aufbau der Bahnhofsmission in Kiel begann, lag die Gründung der ersten Bahnhofsmission am Schlesischen Bahnhof in Berlin erst drei Jahre zurück. Die Volksschullehrerin wurde gleich zur Leiterin der Mission und 1917 vom Reichsverband der Bahnhofsmission mit dem Aufbau eines Schleswig-Holsteinischen Provinzialverbands beauftragt.

Der Weg zur Lehrerin

Wie viele andere Funktionsträgerinnen der frühen Bahnhofsmission war Dorothea Brede Lehrerin. Als Tochter eines Seminarlehrers und Zweitälteste von fünf Geschwistern lebte sie bis 1892 mit ihrer Familie in Segeberg. Ostern 1882 kam sie in die dortige Volksschule. Drei Jahre später absolvierte sie die Gehobene Mädchenschule. 1892, als ihr Vater Gerhard Brede nach Augustenburg versetzt wurde, zog es sie für ein Jahr in ein englisches Pensionat in Limburg an der Lahn. Zu Bildungszwecken waren auch die meisten ihrer Geschwister an andere Orte gegangen. Als der Vater nur ein Jahr nach seiner Versetzung starb, fand sich die Familie wieder in Kiel zusammen. Daraufhin besuchte Brede das königliche Lehrerinnenseminar in Augustenburg, wo sie 1896 ihre Prüfung für das Volksschullehramt ablegte. Sie begann ihre Tätigkeit im selben Jahr an der Zehnten Mädchenvolksschule in Altona und wurde ein Jahr später an die Städtische Volksschule in Kiel berufen, wo sie gleich auch mit der Bahnhofsmissionsarbeit begann.

Anfänge in Kiel

Die Station arbeitete zunächst nicht direkt im Kieler Bahnhof, sondern in der nahegelegenen Friedrichsstraße, der heutigen Herzog-Friedrich-Straße, Hausnummer 26. Dabei unterschied sich die Arbeitsweise der frühen Kieler Bahnhofsmission deutlich von denen in den Metropolen, allen voran Berlin. Laut Statistik des Jahres 1894 waren allein dort 50.000 junge Mädchen aus ländlichen Gebieten eingereist. Da Kiel andere soziale und ökonomische Rahmenbedingungen als Berlin oder Hamburg hatte, erfolgte die Bahnhofshilfe hier nicht in derlei Ausmaßen – 1890 zählte Kiel 70.000 Einwohner, Berlin hingegen 1.5 Millionen. In den Metropolen ging es darum, im Kontext der schwer überblickbaren Ankunftsszenen so proaktiv wie nötig so viele unbedarfte Mädchen wie möglich vor zwielichtigen Geschäftemachern zu bewahren. In den übrigen Städten wurde eher zurückhaltender eine erste Orientierung mit einhergehender Stellenvermittlung oder eine geschützte Unterkunft angeboten.

„Heimat“ für junge Frauen

Laut Jahresbericht der Ortsgruppe des Vereins der Freundinnen junger Mädchen von 1901 umfasste das Vereinsquartier, die „Heimath“, „das Stellenvermittelungsbureau mit Wartezimmer, zwei Hospizzimmer für durchreisende Damen, Zimmer für durchreisende und Stellung suchende junge Mädchen, Zimmer für Pensionärinnen, ein allgemeines Wohnzimmer, eine Eßstube, Privatzimmer der Leiterinnen der Heimath und des Stellenvermittelungsbureaus, Haushaltungsräume.“ Im Jahr 1903 wurden 1.277 stellungssuchende junge Damen von den Freundinnen betreut, wovon 342 vermittelt werden konnten. Henriette von Esmarch setzte sich im Namen des Vorstands der Freundinnen beim Kieler Stadtmagistrat für den Erhalt eines Bauplatzes ein. Im Januar 1904 wurde das „Henriettenhaus“ in der Körnerstraße 3 eingeweiht. Neben Unterkunft und Stellenvermittlung gab es hier ein kultiviertes Freizeitangebot: Es wurde Klavier gespielt und gesungen, musiziert und getanzt, Theater gespielt, gelesen oder Handarbeiten vollführt. Beliebt waren die Unterhaltungsabende sonntags von 18.30 bis 21.30 Uhr.

Beruflicher Fortschritt und Kriegsjahre

Als ehrenamtliche Leiterin der Bahnhofsmission verfolgte Dorothea Brede weiterhin ihr berufliches Fortkommen. Im Rahmen ihrer Ausbildung zur Handelslehrerin besuchte sie von 1905 bis 1906 die Victoria-Fortbildungsschule in Berlin. Nebenamtlich war sie von 1905 bis 1914 an der Kieler Mädchenberufsschule, daraufhin an der dortigen Kaufmännischen Berufsschule für Mädchen tätig. Ehrenamtlich betreute sie von 1911 bis 1920 die Auskunftstelle für Frauenberufe des Kieler Lehrerinnenvereins. Mitten im Krieg erhielt sie 1917 ihre Lehrbefähigung zur Handelslehrerin, während sie mit ihren Helferinnen den zu provisorischen Lazarett- und Erfrischungsstationen umfunktionierten Bahnhöfen im Rahmen der Kriegsfürsorge beistand. 1918 erhielt sie das Verdienstkreuz für Kriegshilfe.

Weimarer Zeiten

Bis heute ist die Bahnhofsmission auch Notunterkunft für Menschen auf der Flucht

Mit der neuen Sozialpolitik der Weimarer Republik übernahmen auch freie und konfessionelle Wohlfahrtsverbände, als „Fürsorgeverbände“ bezeichnet, im Auftrag der Provinz- und Kreisebene die „öffentliche Wohlfahrt“ mit. Die „Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege“ kam erstmals am 14. März 1924 „nachmittags 5 Uhr“ im „Zimmer 243“ im Kieler Rathaus zusammen. Vorsitzender war Bürgermeister Fritz Gradenwitz (*1872–1957†). Auch Dorothea Brede gehörte dem Gremium an. 1919 war sie an der Öffentlichen Handelsschule in Kiel zur Handelslehrerin bestellt worden und erhielt ein Jahr später an den Städtischen Handelslehranstalten die Anstellung auf Lebenszeit. Zudem leitete sie von 1920 an nebenamtlich das Städtische Amt für Berufsberatung und Lehrstellenvermittlung für Frauen und Mädchen. Zur stellvertretenden Direktorin an der Kaufmännischen Berufsschule Kiel wurde sie 1929 ernannt. 

Kämpferin für die Sache der Frauen

Die Gremienprotokolle des damaligen Kieler Fürsorgeamtes lassen den vehementen Einsatz von Dorothea Brede für Frauenrechte der lokalen Frauenbewegung erkennen. So wehrte sie sich zusammen mit Mitstreiterinnen gegen Verleumdungen der Bewegung und forderte von den Denunzianten Richtigstellungen in der Presse ein. Dies zeigt, dass sie neben ihrer fürsorgerischen und auf die Lehre orientierten Arbeit in dieser Phase erstmals offiziell politisch durchaus im Geiste der frauenpolitischen Vorkämpferinnen Louise Otto-Peters (*1819–1895†) oder Hedwig Dohm (*1831–1919†) auftrat. Ihren pragmatischen frauenpolitischen Einsatz belegt ein Protokollauszug des Unterausschusses für den Muttertag, bei dem die Herausgabe von Sparkassenbüchern an Alimentierungswürdige thematisiert wurde: “Fräulein Brede, als Vorsitzende der evangelischen Frauenhilfen, spricht anhand eines nicht berücksichtigten Vorschlages die Anregung aus, in Zukunft den Begriff ‘Stiefmutter’ nicht als Ablehnungsgrund aufzufassen mit Rücksicht darauf, dass es für eine Frau, wenn sie, wie es häufig der Fall ist, Kinder aus verschiedenen Ehen erziehen soll, viel schwieriger ist, als wenn sie die Kinder erzieht, die sie selbst geboren hat. Es wird beschlossen, in Zukunft unter Umständen auch die Stiefmutter mit zu berücksichtigen.“

Die Aufgaben der Bahnhofsmission wachsen

Dorothea Brede mit Missionsbinde 1947

Dorothea Brede regte die Gründung einer Reihe weiterer Bahnhofsmissionen in Schleswig-Holstein an. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten diese begonnen, sich zu einem niederschwelligen, über die Frauenhilfe hinausgehenden Ersthilfeangebot für alle zu entwickeln. 1924 konnte die Kieler Station endlich eigene Räume im Kieler Hauptbahnhof beziehen. Seit 1925 waren hier im Rahmen des auf die Männerarbeit orientierten „Evangelischen Bahnhofsdiensts“ auch Männer an der Bahnhofsmissionsarbeit beteiligt. Bis zum Verbot der Bahnhofsmissionsarbeit durch die Nationalsozialisten im Jahr 1939 stieg die Zahl der bahnhofsmissionarischen Angebote in Schleswig-Holstein auf 16. Durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) waren die Bahnhofsmissionen bereits ab 1933 zunehmend in Bedrängnis geraten. Die Lage hatte sich durch den parallelen Aufbau von NSV-Bahnhofsdiensten seit 1935 und dem ein Jahr später folgendem Verbot der in finanzieller Hinsicht für die Bahnhofsmission wichtigen Bahnhofssammlungen weiter zugespitzt. Die Arbeit der Bahnhofsmissionen wurde nun als „Dienst an der wandernden Gemeinde“ bezeichnet und konnte unter diesem Namen bis 1945 in begrenztem Umfang überdauern. Dies geschah auch in Schleswig-Holstein unter dem persönlichen Risiko, den Verdacht einer Konkurrenz zu den NSV-Bahnhofsdiensten zu erwecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Brede für die Neugründung der Bahnhofsmissionen in Schleswig-Holstein ein. 

Neubeginn nach 1945

Nachdem sie von der britischen Militärregierung in die erste Kieler Stadtvertretung berufen worden war, übergab sie die Leitung der Kieler Bahnhofsmission an die Gewerbeoberlehrerin Erika Rabe. Als CDU-Ratsfrau war Dorothea Brede bis Oktober 1946 in den Ausschüssen für Wohnungsfragen, für soziale Verwaltung und Flüchtlingsfragen sowie im Fachausschuss beim Amt für Familienfürsorge tätig. Zudem saß sie von März 1946 bis Februar 1948 im Entnazifizierungsgremium und im Entnazifizierungsausschuss der Kieler Stadtverwaltung. Ihr selbstloser Einsatz für hilfebedürftige Menschen brachte ihr schließlich das Bundesverdienstkreuz und die Wichern-Plakette der Inneren Mission ein. Den Vorsitz des Schleswig-Holsteiner Landesverbandes der Bahnhofsmission gab sie 1955 an Ilse Knippenberg ab. Bis zu ihrem Tod mit 82 Jahren im Jahr 1958 blieb sie Ehrenvorsitzende. 

Ein besonderes Licht auf ihr Wirken wirft die Aussage der ehemaligen Mitarbeiterin der Kieler Bahnhofsmission Elfriede Hinrichs, die 1967 in einem Buch über die Kieler Bahnhofsmission zu Dorothea Bredes Charakter schrieb: “Bei ihrer Zielstrebigkeit, ihrem ausgezeichneten Organisationstalent und ihrer Bereitwilligkeit zu Opfern fand sie immer auch genügend und geeignete Helferinnen. Mit menschlicher Warmherzigkeit und innerer Anteilnahme stand sie den einzelnen Kräften gegenüber, sodass wirkliche Freude die Triebfeder zur Arbeit und Hilfe für andere Menschen wurde.” Posthume Würdigung erfuhr sie durch den nach ihr benannten Dorothea-Brede-Weg 2009 im Neubaugebiet Steenbeker Weg .

Bahnhofsmissionsarbeit für reisende Senioren in den 1960er Jahren

Jann-Thorge Thöming (1122*)

Dieses Porträt war Teil einer Serie, die im Vorfeld des 4.“Tages der Schleswig-Holsteinischen Geschichte“ am 2. September 2023 in Reinbek entstanden ist. Wie der Tag ist auch der Tagungsband „(UN)SICHTBAR – Frauen in der Geschichte Schleswig-Holsteins“ überschrieben

Literatur:  Astrid Mignon Kirchhof, Das Dienstfräulein am Bahnhof. Frauen im öffentlichen Raum im Blick der Berliner Bahnhofsmission 1884–1939, Stuttgart 2011; Bruno W. Nikles, Bahnhofsmission und Bahnhofsdienste in Deutschland. Ein historischer Abriss ihrer Aufgaben- und Organisationsentwicklung, Opladen u.a. 2019; Bruno W. Nikles, Soziale Hilfe am Bahnhof. Zur Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland (1894–1960), Freiburg im Breisgau 1994; Marion Bejschowetz-Iserhoht, Dienstboten zur Kaiserzeit. Weibliches Hauspersonal in Kiel 1871-1918 (Sonderveröffentlichung der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte Bd. 17), hg. von Jürgen Jensen, Kiel 1984; Nicole Schultheiß, Geht nicht gibt’s nicht. 24 Portraits herausragender Frauen aus der Kieler Stadtgeschichte, Kiel 2007.

Bildquellen: Vignette und Bilder von Dorothea Brede: privat; Henriette von Esmarch: museen-sh.de/Objekt/DE-Mus-076111/lido/P8-E-91;