Eine Frau will aus Nordstrand eine „Insel der Seligen“ machen
Antoinette Bourignon (*1616-1680†) sah sich als Instrument des Heiligen Geistes. Vor dreieinhalb Jahrhunderten kam sie wie viele andere aus Glaubensgründen aus den Niederlanden nach Nordfriesland und verfolgte hohe Ziele: Nordstrand sollte nichts anderes werden als eine Insel der Seligen, ein Ort der Erleuchtung und der Gnade. In Husum gründete sie, unerhört für eine Frau in der damaligen Zeit, 1672 eine eigene Druckerei, um Anhänger zu gewinnen. Viele aber brachte sie gegen sich auf. Am Ende flüchtete sie aus Nordfriesland. Bis in die Gegenwart beschäftigt Theologen und Historiker, ob die Schwärmerin Antoinette Bourignon ein „Werkzeug des Heiligen Geistes“ oder ein „durchgeknalltes Frauenzimmer“ war.
Die Tür ins Kloster bleibt verschlossen
Antoinette Bourignon kam am 13. Januar 1616 in Lille zur Welt und wuchs dort in einer wohlhabenden Familie auf. Im Niederländischen heißt die Stadt Rijsel, heute gehört sie zu Nordfrankreich. Der Vater soll italienischer, die Mutter flämischer Herkunft gewesen sein. Als Mädchen hatte sie ein Erweckungserlebnis und wollte in den Bettelorden der Karmelitinnen eintreten. Aber der Vater widersetzte sich, und ohne Mitgift wollte sie das Kloster nicht aufnehmen. Fortan verachtete sie die klösterlichen und kirchlichen Einrichtungen. Nun wollte Antoinette mit anderen Jungfrauen ein einsames Leben nach urchristlichem Vorbild führen. Diesmal scheiterte der Plan am Widerstand der Jesuiten. Sie übernahm in Lille die Leitung eines Waisenhauses für Mädchen, doch wurden ihr bald fragwürdige Erziehungsmethoden vorgeworfen.
Nordstrand als Fluchtpunkt
Inzwischen hatte Antoinette Bourignon von ihrem Vater ein ansehnliches Vermögen geerbt. In der flämischen Stadt Mechelen lernte sie 1663 den katholischen Priester Christian de Cort (*1608/09-1669†) kennen, der ganz in ihren Bann geriet. Obwohl sie sieben Jahre jünger war, erklärte sie ihn zu ihrem „geistlichen Sohn“. Auf der nordfriesischen Insel Nordstrand wollten die beiden nun eine Gemeinde im Sinne des Urchristentums ins Leben rufen. Hier war de Cort zuvor ein wichtiger Mann gewesen. Auf Nordstrand wirkte damals die Erinnerung an die todbringende Sturmflut des Jahres 1634 noch heftig nach. Mehr als sechstausend Insulaner verloren damals ihr Leben, das Land war übersät von Leichen gewesen, das Grauen unbeschreiblich. Viele sahen in dieser Katastrophe eine „Sündflut“, ein göttliches Strafgericht. Alle Sicherheit war dahin. Die Einheimischen konnten Nordstrand nicht wieder bedeichen. An der Stelle des genossenschaftlich von den Bauern organisierten Deichbaus erhielten nun Investoren aus den Niederlanden einen „Oktroi“ zur Wiedergewinnung des von der Flut überschwemmten Landes. Zwischen 1654 und 1663 wurden drei Köge gewonnen. Der Gottorfer Herzog Friedrich III. (*1597/1616-1659†) sicherte den Niederländern umfassende Vorrechte zu, namentlich die Freiheit der Religion. Denn die neuen Herren waren größtenteils katholisch.
Ein Pfarrer als Deichbauer
Die „Hauptpartizipanten“ machten den Priester Christian de Cort zu ihrem Generalbevollmächtigten. Im Jahr 1662 ließ er die Kirche St. Theresia erbauen. Vielleicht wollte er Nordstrand zu einem Ausgangspunkt für die Rückkehr des Katholizismus im protestantischen Norden machen. Als finanzielle Schwierigkeiten auftraten, verlor er sein Amt und kehrte in seine Heimat zurück. Hier nun faszinierten ihn die Ideen der Antoinette Bourignon von einer christlichen Urgemeinde. Gerade hatte sie das Jüngste Gericht angekündigt. Nach der Schilderung des Nordstrander Chronisten Karl Kuenz (*1901-1978†) ereignete sich nun dieses: Bourignon meinte, „dass Gott der Herr noch irgendwo ein Winkelchen oder kleines Ländchen in Verwahrung hätte, wo er alle seine Kinder und Freunde gegen die schrecklichen Strafen schützen würde. Darauf sprang de Cort von seinem Stuhl, hüpfte vor Freude und rief ohne aufzuhören: Ich habe das Winkelchen, ich weiß das Ländchen, es ist Nordstrand! Antoinette aber lachte herzlich, denn sie hatte noch nie von Nordstrand gehört.“ In Amsterdam bereiteten die beiden ihr Unternehmen vor. 1668/69 plante de Cort auf der Insel einen weiteren Koog, starb aber wohl an einem Schlaganfall. Er sei vergiftet worden, behauptete dagegen Bourignon.
Auf dem Weg nach Nordstrand
Christian de Cort hatte ihr seine Besitzungen auf Nordstrand vermacht, um die sie nun erbittert kämpfte, jedoch war er hoch verschuldet gewesen. Im Sommer 1672 ließ sie sich mit einigen Anhängern in Husum nieder und richtete in der Krämerstraße eine Druckerei ein. Geradezu inbrünstig missionierte sie für ihre Anschauungen und gab ihre hochfliegenden Pläne mit Nordstrand nicht auf. Hier hatte sie Land erworben, wenn auch nur 16 Hektar. Ihre Anhänger siedelten sich bereits auf der Insel an. Ob sie selbst jemals Nordstrand betrat, ist unsicher.
Antoinette Bourignon eckt an
Insbesondere ihre 1673 veröffentlichte Streitschrift „Zeugnis der Wahrheit“ wühlte die etablierte Geistlichkeit auf. Der Husumer Pastor Martin Holmer beschuldigte sie der Lüge und der Gotteslästerei: Sie rühme sich göttlicher Eingebung, doch „der Geist, der Euch solches eingegeben und offenbahret, ist kein Geist der Wahrheit, sondern der Unwahrheit, nicht ein Geist des Lichts, sondern der Finsterniß gewesen“. Ihre Druckerei und sechs Wagenladungen Bücher wurden beschlagnahmt und einige ihrer Werke in Flensburg durch den Scharfrichter öffentlich verbrannt. Bald verließ sie Nordfriesland aus Furcht vor Verfolgung. Zunächst fand sie Unterschlupf in Ostfriesland. Antoinette Bourignon starb 1680 auf der Flucht in der westfriesischen Stadt Frjentsjer/Franeker. Ihr 19 Bände umfassendes Gesamtwerk erschien 1679–86 in Amsterdam.
Ein „durchgeknalltes Frauenzimmer“?
Die Nachwelt schätzte sie unterschiedlich ein, fast alle jedoch sahen sie äußerst kritisch. „Sie hatte unleugbar einen scharffen Verstand“, meinte 1723 immerhin der Husumer Pastor Johann Melchior Krafft. Ihre äußere Erscheinung sei „heßlich“, ihr Geist „aber desto munterer“ gewesen, charakterisierte sie der Chronist Johannes Laß um 1750 in seiner „Sammelung einiger Husumischen Nachrichten“.
In dem Werk „Religion in Geschichte und Gegenwart“ wurde sie 1957 als „eine launenhafte, herrschsüchtige, geltungshungrige Schwärmerin“ bezeichnet, die „sich selbst für die zweite Jungfrau Maria und Mutter der messianischen Menschheit hielt“. Der Kirchenhistoriker Rudolf Mohr sah sie im „Biographischen Lexikon für Schleswig-Holstein“ 1979 indes als eine Geistesverwandte des mystischen Spiritualismus und des radikalen Pietismus. Vieles sei ihr vorgeworfen worden. Das meiste stamme aber aus dem Arsenal der Ketzerpsychologie und sei unbeweisbar. Allerdings habe sie ihre Anhänger ausgenutzt und sei, wenn es um Geld ging, vor dubiosen Praktiken nicht zurückgeschreckt.
Der Husumer Historiker Klaus Schumacher kam 2019 in dem Buch „Schauplatz Husum“ zu diesem Fazit: „Reich, gebildet, unabhängig, Männern gegenüber abgeneigt: Diese Eigenschaften ergaben für ihre männlichen Zeitgenossen zusammen mit ihrer exaltierten Mystik, ihren wahnhaften Ideen von der Führung und Weisung durch den Heiligen Geist, ihrer Vision von Nordstrand als Insel der Seligen das Gesamtbild eines, das Wort sei erlaubt, ‚durchgeknallten‘ Frauenzimmers, an dem die Kritik kaum ein gutes Haar ließ.“ Die niederländische Kulturhistorikerin Mirjam de Baar stellte in jüngster Zeit heraus, dass Antoinette Bourignon als Frau des 17. Jahrhunderts ohne jede theologische Ausbildung eine erstaunliche Einzelgestalt mit einer „emanzipierenden Botschaft“ gewesen sei.
Prof. Dr. Thomas Steensen (1222*)
Literaturhinweise: Mirjam de Baar: Internationale und interkonfessionelle Netzwerke. Zur frühen lutherisch-pietistischen Rezeption von Anna Maria van Schurman und Antoinette Bourignon. In: Ulrike Gleixner/Erika Hebeisen (Hg.): Gendering Tradition, 2007, S. 85–105; Thomas Steensen: Antoinette Bourignons hochfliegende Pläne. In: Husumer Nachrichten, 22.7.2022.
Abbildungen: Antoinette Bourignon auf einem Kupferstich, Wikimedia Commons; Die Kirche St. Theresia auf Nordstrand – Foto: Thomas Steensen; Husum auf einem Ölbild von 1756 – Nordfriesland Museum, Husum