Der am 31. Dezember 2021 vom Netz genommene Meiler in Brokdorf an der Unterelbe mit seiner charakteristischen Kuppel war das letzte rechtskräftig in Deutschland genehmigte Atomkraftwerk. Und es war auch das wohl umstrittenste in der Bundesrepublik. Gestritten wurde um Brokdorf seit Anfang der 1970er Jahre, demonstriert von 1976 an. Die Demo von 1981 war die vorerst letzte Großveranstaltung gegen das Kraftwerk. Danach galten weitere Projekte dieser Art als nicht mehr durchsetzbar. Im Oktober 1986, rund sechs Monate nach der Explosion des sowjetischen AKW Tschernobyl, ging der 1.300-Megawatt-Druckwasser-Reaktor in Betrieb.
Boom der Kernkraft an der Elbe
In den frühen 1970er Jahren suchten die Nordwestdeutschen Kraftwerke einen Standort für ein neues Kernkraftwerk. Die damalige CDU-geführte Landesregierung in Kiel schlug dafür die Wilstermarsch an der Unterelbe vor. Von einer Industrialisierung dieser Region in großem Stil war die Rede. Und so standen recht schnell links und rechts des Flusses die drei Meiler Brunsbüttel, Stade und als letzter der in Brokdorf. Letzterer wurde zum Symbol des Widerstandes gegen die Atomwirtschaft. Die Furcht vor den Risiken dieser Technologie, wie die Gefahr der Verstrahlung bei einem Reaktorunfall und die (bis heute) fehlenden Endlagerkapazitäten für den Atommüll, ließen eine breite Protestfront gegen die Kernenergie entstehen.
Die Anti-Atomkraft Bewegung
Die Anti-Atomkraft-Bewegung war nicht zuletzt ein Erbe der APO (Außerparlamentarische Opposition) und der „68er“, die mit ihren neuen Formen des Protestes das politische Leben in der Bundesrepublik nachhaltig veränderten. Der Widerstand gegen den Bau des Kernkraftwerkes Brokdorf erreichte zudem auch Teile der Bevölkerung, die mit der Studentenbewegung von 1968 nicht viel im Sinn hatten: Bauern und Bürger aus der Umgebung demonstrierten, ebenso wie jene Alt-68er und linksextremen Krawallmacher vor der stark gesicherten Baustelle.
Demo trotz Verbot
Der 28. Februar 1981 war ein eisig-kalter Tag. Trotzdem hatte sich eine riesige Menschenmenge zum Protest gegen das geplante Kraftwerk Brokdorf versammelt. Den mehr als 100.000 AKW-Gegnern standen rund 10.000 Polizisten gegenüber – obwohl es offiziell gar keine Demonstration gab. Es fehlte die Anmeldung. Unabhängig davon hatte Steinburgs Landrat Helmut Brümmer über die gesamte Gegend ein Versammlungsverbot verhängt. Trotzdem wurde demonstriert. Die Stimmung war angespannt, Straßen waren gesperrt, Geschäftsleute vernagelten ihre Schaufenster mit Holzplatten.
Die Schlacht um Brokdorf
Nach der Auftaktkundgebung in Wilster zogen die Protestierenden Richtung Baustelle. Am Nachmittag kam das durch starke Polizeikräfte gesicherte Ziel in Sicht. Der Rückweg vom Baugelände geriet für viele Demonstranten zur Flucht: Polizisten trieben die Menschen vor sich her, BGS-Hubschrauber flogen im Tiefflug über sie hinweg und warfen Tränengas ab. Journalisten, die mit im Zug waren, fühlten sich an Szenen aus dem Vietnam-Film „Apocalypse Now“ erinnert. Die Bilanz dieses Tages: 150 Verletzte, 240 festgenommene Demonstranten. Neben dieser Form von Polizeigewalt hatte es auch heftige Gewaltakte gegen Polizisten gegeben. Der von vielen Demonstranten als überzogen angesehene Polizeieinsatz wurde später auch von der Polizei durchaus selbstkritisch gesehen.
Die Atomkraft und die SPD
Bereits 1976 und 1977 hatte es Anti-Brokdorf-Demos gegeben. Auch die damals noch traditionell linke Nord-SPD war gegen das Kernkraftwerk. Bundeskanzler Helmut Schmidt (*1918-2015†), ebenfalls Sozialdemokrat, war dagegen ein überzeugter Verfechter der Atomenergie. Nach zwei Energiepreiskrisen betrachtete er sie als unerlässlich für die deutsche Energieversorgung. Darüber hinaus galt der hanseatische Sturmflut-Held und bewährte Krisenmanager als Anhänger eines „starken Staates“. Auf der anderen Seite war Schleswig-Holsteins SPD-Vorsitzender Günther Jansen (*1936) die Galionsfigur des Anti-Atomkraftkurses. Er schreckte auch nicht vor scharfen Tönen gegen Schmidt zurück. Bereits 1979 nahm die schleswig-holsteinische SPD den Ausstieg aus der Kernenergie in ihr Programm auf. Auch der damalige Hamburger Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (*1937) setzte sich für ein neues Energiekonzept unter Verzicht auf das AKW-Brokdorf ein. Damit hatten beiden norddeutschen SPD-Landesverbände offen Position gegen Helmut Schmidt bezogen. Dieser zwischen der dickschädligen Küsten-SPD und den konservativen SPD-Kreisen nicht gerade zimperlich ausgetragene Streit trug zur Isolierung Schmidts in der eigenen Partei bei. Das führte schließlich 1982 mit zum Zerbrechen der sozial-liberalen Koalition Schmidt-Genscher. 1986 setzte sich die schleswig-holsteinische SPD auf dem Nürnberger Bundesparteitag durch. Dort wurde der Ausstieg aus der Atomenergie nach skandinavischem Muster beschlossen. Im Jahr 2000 verhandelte Bundeskanzler Gerhard Schröder (*1944) mit der Energiewirtschaft um die Umsetzung des Ausstiegs aus dieser Technologie. Die Laufzeit des Meilers von Brokdorf wurde damals bis auf das Jahr 2018 datiert. Dieses Datum nahm Bundeskanzlerin Angela Merkel für kurze Zeit zurück, um dann nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima vom März 2011 einen zügigen Ausstieg aus dieser Technologie durchzusetzen.
Brokdorf schafft neues Recht
Brokdorf änderte nicht nur die deutsche Energiepolitik, sondern auch die bundesdeutsche Rechtsprechung. Gegen das flächendeckende Demonstrationsverbot des Steinburger Landrats Helmut Brümmer hatte das Itzehoer Lehrerehepaar Grit und Klaus Pancke vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Die „Norddeutsche Rundschau“ hatte getitelt: „Landrat Brümmer: Jeder kann gegen diese Entscheidung Klage erheben“. Das nahm das Ehepaar wörtlich. Als in der Wilstermarsch schon die Demo in vollem Gange war, wurde in Karlsruhe noch beraten, aus Zeitmangel aber nicht entschieden. Das Urteil kam Jahre später. 1985 räumte das Bundesverfassungsgericht, das sich wegen Brokdorf erstmals mit dem Artikel 8 des Grundgesetzes befasste, der Versammlungsfreiheit einen ähnlich hohen Stellenwert ein wie der Presse- und Meinungsfreiheit und das pauschale Demonstrationsverbot wurde für unrechtmäßig erklärt. Eine heute noch maßgebliche Entscheidung, über die damals „Der Spiegel“ schrieb: Ein richtungsweisender Spruch zum Demonstrationsrecht.
Brokdorf als Geburtsstunde der Grünen
Der Widerstand gegen das AKW war auch die Geburtsstunde der Grünen. Die spätere Bundestagsabgeordnete und Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Angelika Beer (*1957) aus Neumünster, ist ein gutes Beispiel. Nach den Erlebnissen am Bauzaun war für die damals 24-jährige klar, dass der linke gesellschaftliche Widerstand auch in die Parlamente getragen werden musste. Beer trennte sich vom Kommunistischen Bund, um bei den Grünen Politik zu machen. Es war die Erkenntnis, dass Sektierertum innerhalb der K-Gruppen nicht weiterführte. In Schleswig-Holstein gründeten AKW-Gegner im September 1977 die Wählergemeinschaft zur Erhaltung der Wilstermarsch. Auch an anderen Orten bildeten sich Kreisgruppen. Diese regionalen Gemeinschaften vereinigten sich im September 1978 in der „Grünen Liste Schleswig-Holstein“. Ein Jahr später gründete sich bundesweit die Partei „Die Grünen“.
Michael Legband (0322*/ 1022)
Quellen: Jann Markus Witt und Heiko Vosgerau (Hrsg.) „Schleswig-Holstein – von den Ursprüngen bis zur Gegenwart“, 2002, Hamburg, Convent Verlag, ISBN 3-934613-39-X; Uwe Danker und Utz Schliesky (Hrsg.), Schleswig-Holtein 1800 bis heute, 2014, Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-89876-748-4
Bildquellen: Vignette/Polizeieinsatz: Hans Weingartz (gemeinfrei); Bauern bringen Milch: Bürgerausschuss Umweltschutz Unterelbe (Hrsg.); Luftbild 2011: Louis-F. Stahl; kämpf am Zaun: Werner Junge; Karikatur/Flugblatt Grüne (farblich nachbearbeitet) aus „Symbol Brokdorf – Die Geschichte eines Konflikts /Dokumentation einer Ausstellung, 2008