Es begann mit Seeleuten und Glücksrittern
Vor allem drei Dinge haben Menschen veranlaßt, ihre Heimat zu verlassen: Hunger, Krieg und Naturkatastrophen. Sie machten mobil, waren – wie die Auswanderungsforscher sagen – „Push-Faktoren“. Doch sie reichten nicht, um wie zwischen 1867 und 1884 in vielen Kreisen der preußischen Provinz Schleswig-Holstein jeden Zehnten zu veranlassen, die Heimat zu verlassen. „Pull-Faktoren“ mußten dazukommen. Arbeit, Zukunft und die Chance, Wohlstand zu erwerben, wurden gesucht. Zu finden schien das für die meisten der Auswanderer in Amerika. Die Massenemigration ist ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Ihre Wurzeln liegen in der frühen Auswanderung bis 1800. In dieser Zeit verblaßte das Bild von der gefährlichen Wildnis in Übersee und wurde zu einem vom „gelobten Land Amerika“. Wichtig war zudem, daß der Anteil der Deutschen an der Bevölkerung der USA um 1800 etwa acht bis neun Prozent ausmachte. Für deutschsprachige Einwanderer waren die Vereinigten Staaten damit kein völlig unzugängliches, fremdes Land mehr. Bis 1800 waren rund eine halbe Million Deutsche nach Amerika ausgewandert.
Not macht mobil
Armut, Überbevölkerung und wirtschaftliche Krisen trafen Europa im 19.Jahrhundert. Angesichts der Nöte ließ sich das Auswandern nicht mehr länger verbieten oder behindern. Nach den Napoleonischen Kriegen war die Lage im dänischen Gesamtstaat katastrophal. Sie mündete 1813 in den Staatsbankrott. In dieser schwierigen Zeit suchten zunächst einzelne ihr Heil in Übersee. Das Kirchenbuch der Gemeinde Drelsdorf verzeichnet einen Peter Bischoff, der im Jahr 1819 desertiert und nach Amerika geflohen war. Auf den Halligen, die im Jahr 1825 von einer Sturmflut zusätzlich schwer getroffen worden waren, begann eine „Tradition“ der Auswanderung. In der Folgezeit blieb sie nicht auf die Küste beschränkt. Langsam, aber stetig wuchs die Zahl der Auswanderer in den 1830er und 1840er Jahren an. Aus der Neuen Welt kamen Briefe in die alte Heimat. Sie gingen von Hand zu Hand und wurden auch in den Zeitungen abgedruckt. Meist berichteten die gerade Angekommenen begeistert über die neue Heimat. Die Angehörigen und Freunde in Marne oder Tondern lasen vor allem die guten Nachrichten begierig. Immer mehr Menschen warteten bald nur noch auf eine Gelegenheit, um das Land zu verlassen.
Die erste große Welle
Die erste große Auswanderungswelle begann nach der Niederschlagung der schleswig-holsteinischen Erhebung durch den dänischen Staat 1851. Sie dauerte bis etwa zur Mitte der 1850er Jahre. Die meisten Auswanderer gingen aus wirtschaftlichen Gründen. In den USA lockten seit dem Goldrausch 1848 die Goldfelder Kaliforniens. Auch das billige, fruchtbare Land der Prärien jenseits des Mississippi zog besonders die „europamüde“ Landbevölkerung an. Die Gruppe der politisch Motivierten war innerhalb dieses Stromes nur ein Rinnsal. In den USA wurden die seit 1848 nach den niedergeschlagenen Revolutionen ankommenden Deutschen als „forty-eighter“ bezeichnet. Die Auswanderer dieser ersten Welle waren in der Regel Bauern und Handwerker. Sie kamen meist nicht mittellos in die Neue Welt, einige waren nach dem Verkauf ihres alten Besitzes sogar recht wohlhabend. Meist fanden sie sich in kleinen oder größeren Gruppen zusammen, die gemeinsam über den „großen Teich“ reisten und oft in ihrer neuen Heimat auch zusammen siedelten. Da häufig ganze Familien auswanderten, war das Verhältnis von Frauen zu Männern in der Zahl während dieser ersten Welle nahezu ausgeglichen. Auch das Altersspektrum reichte vom Säugling bis zum Greis.
Amerika! Amerika!
Nachdem der auch durch den Goldrausch ausgelöste Ansturm Ende der 1850er Jahre abgebbt war, ließ der Amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) die Zahl der Auswanderer nochmals stark zurückgehen.
Auch in Schleswig-Holstein herrschte Krieg. Der deutsch-dänische Krieg 1864 (Schleswigsche Kriege) und die ungewisse Zukunft der Herzogtümer bis zur Annexion durch Preußen (1867) beschleunigten den wirtschaftlichen Niedergang. Die Aussichten für Handwerker, Kleinbauern und vor allem die der Landarbeiter waren trostlos. Eine Familie zu gründen und zu ernähren war kaum möglich. Vor allem junge Menschen suchten deshalb nun in Übersee die Chance, etwas Eigenes aufbauen zu können. Johann Hinrichs aus Osterhever auf Eiderstedt notierte in dieser Zeit, es sei für einen rüstigen und strebsamen jungen Mann eine traurige Zukunft, trotz aller Arbeit und Fleißes doch nur Dienstknecht oder Arbeitsmann bleiben zu müssen. 1880 ging er zu einer Schwester nach Colorado.
Während in Schleswig-Holstein kaum Hoffnung bestand, dass sich die Lage besserte, begann in den USA nach dem Ende des Bürgerkrieges ein beispielloser wirtschaftliche Aufschwung. Er wandelte eine bis dahin vor allem agrarisch geprägte Gesellschaft in eine industrielle Weltmacht. Die Besiedlung des bald nicht mehr Wilden Westens, die schnell wachsenden großen Städte wie Chicago, New York oder Milwaukee und ein Boom der Bergbauregionen gaben den unzähligen Neuankömmlingen die Chance, ihren Traum vom besseren Leben zu verwirklichen. So zogen etwa die großen Schlachthöfe in Chicago Schlachtergesellen und Lehrlinge aus Husum und von Eiderstedt an. Einer, der es wirklich geschafft hat, den „amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär“ – „from rags to riches“ – zu verwirklichen, war der Husumer Ludwig Nissen. Er stiftete das nach ihm benannte Nordfriesische Museum in Husum. Nissen gilt heute als der wohl bekannteste nordfriesische Auswanderer. Aber es gab auch eine andere Seite. Das Schicksal der zahllosen Opfer und Ausgebeuteten des vergoldeten Zeitalter Amerikas, des „gilded age“, jedoch sprach sich selten in der Heimat herum.
Von der Aus- zur Binnenwanderung
Die beiden größten Auswanderungswellen in Schleswig-Holstein fielen in die Dekaden 1865 bis 1875 und 1880 bis 1890. 1893 erfaßte die USA eine Wirtschaftskrise. Drei Millionen Menschen verloren ihre Arbeit, es kam zu Unruhen. Das Deutsche Reich dagegen erlebte parallel seine „Gründerzeit“. Die Binnenwanderung löste die Auswanderung ab. Die auch vor allem im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräfte zog es nicht länger nach Amerika oder in das australische Queensland, sondern in die Großstädte und die neu entstehenden Industriereviere des Reiches. Nur noch nach den Weltkriegen im 20.Jahrhundert kam es jeweils zu einem kurzen Aufflackern besonders der Amerika-Auswanderung.
Die Schwerpunkte der Auswanderung aus Schleswig-Holstein lagen dort, wo schon früh Verbindungen nach Übersee geschaffen worden waren: in Dithmarschen, in Ostholstein mit der Insel Fehmarn, in Nordfriesland und hier ganz besonders auf den Inseln Föhr und Amrum. Ebenfalls eine hohe Auswandererquote wiesen, besonders für die ersten Jahre der preußischen Regierung, die nordschleswigschen Kreise auf. Die starke Ablehnung der neuen preußischen Regierung hatte dazu geführt, daß dort überdurchschnittlich viele Menschen von den traditionellen Bindungen an ihre Heimat gelöst worden waren. Aber auch in Gebieten mit geringerer Auswanderung, wie zum Beispiel auf Eiderstedt, gab es kaum ein Kirchspiel, aus dem nicht einzelne Personen oder Familien in Übersee ihr Glück versuchten. So heißt es schon 1882 – zu Beginn der letzten und größten Auswanderungswelle – in einem Bericht des Oberpräsidenten Steinmann der Provinz Schleswig-Holstein: „Aus hiesiger Provinz besteht seit jeher ein reger Verkehr mit dem überseeischen Ausland. Man findet hier kaum eine ältere Familie, aus welcher nicht wenigstens ein Angehöriger ausgewandert wäre. Hauptsächlich geht auch hier der Zug der Auswanderer nach Amerika.“
Versuch einer Bilanz
Es waren in der Mehrzahl Landarbeiter, Dienstknechte oder Tagelöhner, die in der Hoffnung auf einen besseren Verdienst nach Amerika auswandern wollten. Eine weitere große Gruppe waren die Bauernsöhne, die nicht als Hoferben vorgesehen waren. Hinzukamen eine Reihe von Handwerkern. Ihr Ansehen in der Neuen Heimat war nicht immer gleich hoch. Galten Deutsche lange als „tüchtig“, so schlug etwa nach der Versenkung des amerikanischen Passagierdampfers „Lusitania“ 1915 die Stimmung um. Die veröffentlichte Meinung in den Staaten forderten, nun sei es an der Zeit, sich für Deutschland oder Amerika zu entscheiden. Die meisten der Deutschstämmigen paßten sich an, anglisierten sich ohnehin bereitwillig und versuchten nun, noch bessere Amerikaner zu sein. Vorbehalte bis hin zum Haß gegenüber Fremden und Einwanderern in den Staaten waren kein Phänomen, das sich allein gegen Deutsche richtete. Sie hatten eine Tradition bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden danach jedoch von der „Sklavenfrage“ überdeckt, die mit zu einem auslösenden Moment für den Bürgerkrieg wurde.
Nach den Meldungen der Hafenstädte Hamburg, Bremen, Stettin und Antwerpen wanderten von 1871 bis 1925 gut 150.000 Schleswig-Holsteiner aus. Über 10.000 dürften über dänische Häfen die Reise angetreten haben. In der Provinz Schleswig-Holstein lebten 1870 gut eine Millionen Menschen, 1920 ( mit dem Herzogtum Lauenburg, ohne Nordschleswig) knapp 1,5 Millionen.
Dr. Paul-Heinz Pauseback (TdM 0801/0621/0423)
Tipp: Für den Kreis Nordfriesland liegt für die preußische Zeit ab 1867 eine umfangreiche Auswanderungskartei vor. Kontakt über www.nordfriiskinstituut.de. Inzwischen hat sich die „Arbeitsgemeinschaft Genealogie Schleswig-Holstein“ (AGGSH) zusammengefunden. Ihr Ziel ist es, in Kooperation mit dänischen Familienforschern und dem Landesarchiv in Schleswig auf einer einheitlichen Plattform etwa die Daten der ersten allgemeinen Volkszählung von 1803 zu digitalisieren und sie zugänglich zu machen. Die Arbeitsgemeinschaft ist unter www.aggsh.de zu finden.
Quellen: Paul-Heinz Pauseback, „Übersee-Auswanderer aus Schleswig-Holstein … als hätten sie nie eine Heimat, nie eine Mutter gehabt!“, Husum und Bredstedt, 2000, Herausgegeben vom Nordfriesischen Museum Ludwig-Nissen Haus und dem Nordfriisk Instituut www.nordfriiskinstituut.de, ISBN 3-88007-280-9; Ingwer Ernst Momsen, Mobilität in Schleswig-Holstein um 1750 unter besonderer Berücksichtigung der Auswanderung, in Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte ZSHG 102/103 (1977/1978), S. 111-138
Bildquellen: „Übersee-Auswanderer aus Schleswig-Holstein“ s.o.; Ingwer E. Momsen, Eckart Dege, Ulrich Lange (Hrsg.), Historischer Atlas Schleswig Holstein 1867 bis 1945, 2001, Neumünster, Wachholtz Verlag