Johanna Mestorf (*1828 – 1909†)
Johanna Mestorf gilt als eine der bedeutendsten Prähistorikerinnen des 19. Jahrhunderts und hat durch ihre Forschung einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Archäologie und Naturwissenschaften geleistet. Obwohl sie keine formale Ausbildung absolvierte, erwarb sie sich als Autodidaktin einen exzellenten Ruf. Sie war die erste Frau im Königreich Preußen, die ein Universitätsinstitut mit Museum als Direktorin leitete – und den Titel „Professor“ trug.
Eine schwere Jugend
Johanna Mestorf wurde am 15. April 1828 in Bramstedt als viertes von neun Kindern geboren. Beeinflusst durch die archäologischen Studien ihres Vaters und seine umfangreiche Sammlung von antiken Artefakten, entdeckte sie schon in ihrer Kindheit ihre Begeisterung für Archäologie. Nach dem Tod des Vaters 1837 musste die Familie sich wirtschaftlichen Herausforderungen und Schicksalsschlägen stellen, da vier Geschwister verstarben. Dennoch gelang es Mestorfs Mutter, den drei Töchtern eine solide Schulbildung zu ermöglichen. Die Familie zog nach Itzehoe, wo Johanna Mestorf ab 1837 die „Blöckersche Privatschule für Höhere Töchter“ besuchte. Diese solide Bildung, gepaart mit ihrem herausragenden Talent und steter Begeisterung, bahnten den Weg für Johanna Mestorfs außergewöhnliche Karriere – als Autodidaktin. Denn die Universität blieb Frauen ihrer Zeit verwehrt; erst um 1900 sollten erste deutsche Universitäten auch Frauen zum Studium zulassen.
Skandinavische Altertumskunde
Anfangs schien auch für Johanna Mestorf der typische Lebensweg einer gebildeten, aber unverheirateten Frau des 19. Jahrhunderts vorgezeichnet. Als Erzieherin und Gesellschafterin zog es die 20-Jährige zunächst nach Schweden, wo sie die nordischen Sprachen lernte und mit der nordeuropäischen Altertumskunde in Berührung kam. Während dieser Zeit legt sie den Grundstein für ihre zukünftige Karriere als Ur- und Frühhistorikerin. Aus ihren Briefen wird deutlich, dass sie bereits zu dieser Zeit selbstbewusst und strategisch ihre weitere wissenschaftliche Laufbahn plante: Durch eigenständiges Studium eignete sie sich ein umfangreiches Wissen an und sammelte erste Kontakte zu archäologischen Fachkollegen. Nach einigen Jahren in Italien als Gesellschafterin und Begleiterin einer italienischen Gräfin fasste sie 1859 in Hamburg als Übersetzerin und Fremdsprachensekretärin Fuß.
Eine „exotische Randerscheinung“
Im Jahr 1866 veröffentlichte Johanna Mestorf ihr erstes Werk, den historischen Roman „Wiebeke Kruse, eine holsteinische Bauerntochter“. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit verfasste sie Fachartikel und hielt eine Reihe von Vorträgen über nordische Mythologie. Ihr Ruf festigte sich rasch: Zwischen 1869 und 1876 nahm Johanna Mestorf im Auftrag des Hamburger Senats an verschiedenen internationalen Kongressen für prähistorische Anthropologie und Archäologie teil. Sie reiste nach Kopenhagen, Stockholm, Bologna und Budapest, knüpfte Kontakte zu einflussreichen Anthropologen und Archäologen. Dank ihrer engagierten Arbeit wird Johanna Mestorf als renommierte Forscherin geschätzt, jedoch wurde sie als einzige Frau unter einer großen Zahl männlicher Kollegen auch immer wieder als „exotische Randerscheinung“ wahrgenommen, so der Historiker Carl Zimmermann.
Erste Museumsdirektorin
1873 wurde sie zur Kustodin des Schleswig-Holsteinischen Museums vaterländischer Alterthümer der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ernannt, 1891 schließlich zu dessen Direktorin – als erste Frau in Preußens, die ein Universitätsinstitut mit angeschlossenem Museum leitete. Trotz begrenzter Ressourcen initiierte und förderte sie bedeutende Forschungsprojekte. Besondere Verdienste erlangte sie auf ihrem Hauptforschungsgebiet der Jungsteinstein, prägte den Epochenbegriff der „Einzelgrabkultur“ und setzte wichtige Marksteine in der Erforschung von Moorleichen.
Ein Leben voller Arbeit
Johanna Mestorf erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften. So wurde sie 1891 Ehrenmitglied in der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 1899 wurde ihr der Frauenverdienstorden vom deutschen Kaiserpaar verliehen, und sie erhielt als erste Frau Preußens den Titel einer Professorin, wenn auch ohne Lehrbefugnis. Ihre Übersetzungen wichtiger Werke führender skandinavischer Prähistoriker prägten die deutsche Urgeschichtsforschung maßgeblich, weshalb sie 1909 zum Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte ernannt wurde. An ihrem 80. Geburtstag erhielt sie schließlich den Ehrendoktortitel der Medizinischen Fakultät der Universität Kiel. Erst vier Monate vor ihrem Tod 1909 trat sie als Direktorin des Universitätsinstituts zurück.
Wirkung bis in die Gegenwart
Johanna Mestorfs Werk trug dazu bei, dass die Archäologie in Schleswig-Holstein einen hohen Stellenwert erlangte. So spielte sie eine entscheidende Rolle bei der frühzeitigen Untersuchung und dauerhaften Erhaltung des Danewerks und vieler weiterer Fundstätten. Die von ihr aufgebaute Sammlung bildet den Grundstock des Archäologischen Landesmuseums auf Schloss Gottorf. Als wichtige Vermittlerin zwischen der skandinavischen und deutschen Archäologie prägte sie die Forschung ihrer Zeit maßgeblich.
„… aus Liebe zur Sache“
„Was mich betrifft, so habe ich schon erwähnt, daß ich aus Liebe zur Sache arbeite“, formulierte Mestorf einmal ihren eigentlichen Antrieb. Doch auch wenn sie sich nie bewusst in der Frauenbewegung ihrer Zeit engagierte, setzte Johanna Mestorf als weibliche Pionierin auf ihrem Gebiet wichtige Marksteine für die Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft und inspirierte viele nachfolgende Generationen von Archäologinnen.
Maike Manske (0623*)
Literatur: Dagmar Unverhau: Ein anderes Frauenleben. Johanna Mestorf (1828–1909) und „ihr“ Museum vaterländischer Altertümer bei der Universität Kiel. 3 Bände. Wachholtz, Kiel 2015; Anna Ziel: Vom Ehrenamt zur anerkannten Wissenschaft. Die archäologische Karriere der Johanna Mestorf war einzigartig im Norddeutschland des 19. Jahrhunderts. In: Antike Welt. Band 38, 2007, Heft 1, S. 46–48;Prof. Johanna Mestorf. In: Nicole Schultheiß: Geht nicht gibt’s nicht … 24 Portraits herausragender Frauen aus der Kieler Stadtgeschichte. Kiel 2007, S. 57 ff.