Kinderrepublik auf Gut Seekamp
Am 17. Juli 1927 begrüßte der Journalist, Politiker und spätere Kieler Oberbürgermeister Andreas Gayk (*1893–1954†) in der Nordostseehalle über 2.000 Kinder, die auf dem Weg ins Sommerlager waren. Den Platz für die Zeltstadt bot das Gelände des Gutes Seekamp. Das war seit 1925 im Besitz der Stadt Kiel und liegt direkt an der Förde im heutigen Kieler Ortsteil Schilksee. Die Mädchen und Jungen aus Arbeiterfamilien waren eingeladen, um vier Wochen in der „Kinderrepublik Seekamp“ zu verbringen. Sie kamen aus Deutschland, Dänemark, Österreich und der Tschechoslowakei. An der Ostsee sollten sie sich erholen und zugleich etwas lernen. Es war 1927 ein pädagogisches Experiment.
„Kinderfreunde“ und „Kinderrepubliken“
Die Sozialdemokratie gehörte nach 1918 zu den staatstragenden Parteien. Dass sozialistische Erziehung bereits im Kindes-, nicht erst im Jugendalter beginnen sollte, spielte in der Partei eine nicht unerhebliche Rolle. Diesem Ziel widmete sich die „Kinderfreundebewegung“, die sich 1923 als sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft zusammengetan hatte. Sie organisierte unter maßgeblicher Mitwirkung sozialistischer Jugendorganisationen von 1927 an Zeltlager, die „Kinderrepubliken“ genannt wurden. Diese widmeten sich ausdrücklich demokratischen Zielen. In den Lagern waren die Kinder angehalten, sich selbst zu organisieren und zu verwalten, Streit durch Gespräche zu schlichten und zu achten, was eine Mehrheit entschieden hatte. Die erste „Kinderrepublik“ bestand 1927 auf Gut Seekamp. Bis 1933 folgten schätzungsweise sechs weitere, darunter zwei in Schleswig-Holstein, so auch 1928 ein Zeltlager in der Lübecker Bucht, an dem der 15-jährige Herbert Frahm teilnahm, den wir heute als Willy Brandt (*1913-1992†) erinnern.
Andreas Gayk und die „Kinderfreunde“
Andreas Gayk war ebenso wie seine Frau Frieda Brennecke (*1894–1960†) überzeugt von der Idee der „Kinderrepubliken“. Er war in führender Position bei den Kinderfreunden in Schleswig-Holstein aktiv und entwickelte maßgeblich das erzieherische Konzept der sozialistischen Kinderlager mit. Diese sollten für ihn Heranwachsende nicht auf eine Parteikarriere vorbereiten, sondern ihnen das Gefühl geben, einer tragfähigen Gemeinschaft anzugehören und in dieser Verantwortung zu übernehmen. 1927 schrieb er, es handele „sich bei der Idee des Zeltlagers nicht mehr um eine romantisch umkleidete Gesundheitsfürsorge, sondern um einen großen sozialpädagogischen Versuch.“ Es gehe darum, Kinder in ihre „gesellschaftlichen Aufgaben“ hineinwachsen zu lassen. Erwachsene sollten sich zurückhalten und nach Möglichkeit nur beratend im Hintergrund wirken.
Seekamp konkret
Das Zeltlager Seekamp bestand aus Dörfern, in denen jeweils 15 Zelte Platz für 16 Kinder und einen Erwachsenen boten. Die Kinder wählten pro Zelt einen „Obmann“, der mit einigen Helfern und einem Erwachsenen als „Bürgermeister“ ein Dorfparlament bildete. Aus den Dörfern kamen gewählte Abgeordnete und die „Bürgermeister“ zum übergeordneten Lagerparlament zusammen. In diesem wurden Verantwortliche für bestimmte Aufgaben benannt. Als Lagerpräsident war zu Beginn der Pädagoge Kurt Löwenstein (*1885–1939†) gewählt worden, einer der Initiatoren des erzieherischen Konzepts dieser Lager. Der Tagesablauf in Seekamp war mit Morgenappell, mittäglicher und abendlicher Zeltruhe aus heutiger Sicht streng durchorganisiert. Im Hintergrund wirkten Kieler Familien, Mitglieder sozialistischer Organisationen wie der Arbeiterwohlfahrt daran mit, dass es den Kindern gut ging. Während die lokale Öffentlichkeit das Experiment durchaus skeptisch beobachtete, nutzte sozialistische Prominenz einen Besuch, um für die Idee zu werben.
Ein gedenkwürdiger Ort
Im Jahre 2017 wurde das 90-jährige Jubiläum der „Kinderrepublik“ begangen. Seit 2018 erinnert eine Stele in Schilksee an die „Kinderrepublik Seekamp“. Zum ersten Lager in Seekamp gibt es einen 23-minütigen Film von 1927, der in die Zeit der Weimarer Republik zurückversetzt – https://jugend1918-1945.de. Interessierte können seit einiger Zeit auch auf einer interaktiven Website Demokratie erLeben mit drei Arbeiterkindern eine Reise in die „Kinderrepublik Seekamp“ antreten.
Prof. Barbara Stambolis (0623*)
Literatur: Gröschel, Roland (Hg.): Auf dem Weg zu einer sozialistischen Erziehung. Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte der sozialdemokratischen „Kinderfreunde“ in der Weimarer Republik, Essen 2006; Susanne Kalweit (Hg.): Ich hab mich niemals arm gefühlt. Die Kielerin Rosa Wallbaum berichtet aus ihrem Leben, Berlin, Hamburg 2010, S. 43-54; Die rote Kinderrepublik. Ein Buch von Arbeiterkindern für Arbeiterkinder (1928) Neuauflage hg. von der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte e.V., Kiel 2017; Diedrichs, Irmela: Darstellung und Vermittlung des sozialistischen Demokratiekonzepts. Die Kinderrepublik Seekamp 1927 der Reichsarbeitsgemeinschaft Kinderfreund, in Andreas Braune u.a. (Hg.): Bildung und Demokratie in der Weimarer Republik, Stuttgart 2022, S. 249-272.
Bildquellen: Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Arbeiterjugend, Fotosammlung 02/08