Rio Reiser – bei Aufnahmen für „Ton Steine Scherben“

Fresenhagen: die freie Republik

Ein Bauernhof in Nordfriesland wurde 1975 eine „Freie Republik“ und zu einer Kultstätte der Rockmusik. Die Band „Ton Steine Scherben“ zog damals von Berlin-Kreuzberg in den eher unscheinbaren Ort Fresenhagen, gelegen in der Gemeinde Stadum bei Leck. Dort starb ihr Frontmann Rio Reiser, nur 46 Jahre alt, am 20.August 1996. Die „Scherben“ waren in den 1970er Jahren die wohl einflussreichste deutsche Rockband. Um keine andere ranken sich so viele Legenden. Manchmal wurden sie als die deutschen „Rolling Stones“ bezeichnet, und auch im Namen klingt etwas Verwandtschaft an. Sie sangen ausschließlich deutsch und wirkten damit als Wegbereiter. Noch vor Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen oder Herbert Grönemeyer machten sie deutsche Rockmusik populär. Ihre Lieder waren das genaue Gegenteil der deutschen Schnulze. Frontmann Rio Reiser vermochte sein Publikum zu faszinieren und berührt mit seiner Stimme, seinen Melodien und Texten noch heute viele Menschen. 1950 in Berlin geboren, zog er mit seinen Eltern und Brüdern mehrfach um und ging 1967 nach West-Berlin. Ihren ersten, von Tumulten begleiteten Auftritt hatte die Band um Rio Reiser 1970 beim „Love and Peace-Festival“ auf Fehmarn. 

Soundtrack der 1968

Die „Scherben“ waren eine politische Agit-Rock-Band. Man kann sie als das musikalische Sprachrohr der linksalternativen 68er-Bewegung bezeichnen, die sie mit ausdrucksstarken, zum Teil mitreißenden Liedern unterstützte. Manche ihrer frühen Titel wurden zu Ikonen und Hymnen der Außerparlamentarischen Opposition: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“, „Keine Macht für Niemand“ und „Alles verändert sich, wenn Du es veränderst“. Die Lieder trafen als Ausdruck eines alternativen Lebensgefühls den Nerv der Zeit. Die „Scherben“-Kommune am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg war ein Treffpunkt der linken „Szene“. Rio Reiser allerdings spottete manchmal über die kommunistischen „Pharisäer und Schriftgelehrten“, die sich hinter immer neuen Buchstabenkürzeln sammelten. 

Stadtflucht 1975

Bei jeder „Aktion“ dabei zu sein, bei jedem Solidaritätskonzert – natürlich ohne Bezahlung – auftreten zu müssen, empfand die Gruppe zunehmend als Belastung. Sie klagte über die linke Intoleranz, wandte sich außerdem stärker melodisch geprägten Stücken mit manchmal lyrischen Texten zu. So traten die „Scherben“ 1975 die Flucht aus Berlin an und gründeten in Fresenhagen ihre Landkommune. Dass sie sich gerade im Kreis Nordfriesland ansiedelten, war nicht bewusst gewählt. Rio Reiser schreibt in dem Erinnerungsbuch „König von Deutschland“: „Wir beschlossen, auszuwandern. Wir wollten raus aus Berlin. Wir wollten einen Bauernhof. Egal wo. Geld spielte keine Rolle. Wir hatten keins.“ Zunächst wurde ein Hof im Münsterland besichtigt. Dann kam das Angebot, so erinnerte sich ein anderes Bandmitglied, „einen stark renovierungsbedürftigen Bauernhof in Nordfriesland zu kaufen, nahe der dänischen Grenze. Fresenhagen hieß das Kaff.“ 

Fresenhagen – einsam, mitten in der Natur, groß und renovierungsbedürftig

Kuhfladen statt Kommunismus

Es erscheint wie eine Ironie des Schicksals, dass der Bauernhof in jenem „Kaff“ einst zu einem adeligen Gut gehört hatte, was im Gebiet des heutigen Kreises Nordfriesland eine große Ausnahme bildete. Der Name bedeutet etwa „Hof bei den Friesen“. Mit ihrer „Freien Republik“ knüpften die „Scherben“ aber nicht an Motive der friesischen Geschichte an, in der sie etwa bei dem Revolutionär Harro Harring durchaus hätten fündig werden können. Wohl aber ließen sie sich in einigen Liedern von der Landschaft inspirieren, von Meer, Wind, Ebbe und Flut. „Das Landleben“, so erinnerten sich Band-Mitglieder, „schien zunächst wie ein naturreligiöses Erweckungserlebnis. Gartenarbeit statt Hausbesetzungen, Kuhfladen statt Kommunismus und jede Menge Viecher.“ 

Landlust und WG-Frust

In Fresenhagen bildeten die „Scherben“ eine enge Wohn- und Lebensgemeinschaft. Ihre „Landkommune“ war das Gegenbild zur bürgerlichen Kultur. Alles sollte allen gehören. Normaler Broterwerb zu festen Zeiten wurde missachtet. Teilweise versorgte man sich selbst, half auf benachbarten Bauernhöfen bei der Ernte aus. Rauschmittel wurden konsumiert. Man bemühte sich um sexuelle Toleranz. Die Gruppe unterstützte, als Homosexualität noch ein Tabu der bürgerlichen Gesellschaft war, die Schwulenbewegung. Rio Reiser selbst war homosexuell. Berichtet wird aber auch von kleinlichem Streit um Abwasch und schmutzige Wäsche und von Gruppenzwang. Wie kritisch man die Kommune der „Scherben“ auch sehen mag: Die Gruppe richtete sich und ihre Musik nie am kommerziellen Erfolg aus. Sie versuchte sich der Leistungsgesellschaft zu entziehen und ihren Idealismus zu bewahren.

Das Ende von „Ton Steine Scherben“

„Ton Steine Scherben“ im Probenraum in Fresenhagen

„Ton Steine Scherben“ lösten sich 1985 auf. Reiser schlug nun eine Solokarriere ein. „König von Deutschland“ wurde sein bekanntestes Stück. Liebeslieder wie „Junimond“, „Für immer und Dich“, „Stiller Raum“ entstanden in Fresenhagen. Sie zeigen, wie phantasievoll der Rock-Poet Rio Reiser mit Worten und Klängen spielen konnte. Er starb nach einem intensiven und auch exzessiven Leben in Fresenhagen. Herbert Grönemeyer sagte, Reiser sei der einzige deutsche Sänger, den er je bewundert habe. Als sein Nachlass 2019 dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach übergeben wurde, bezeichnete dessen Direktorin ihn als einen der wichtigsten deutschen Liedtexter.

Pilgerstätte Fresenhagen

Das Grab von Rio Reiser zog 2011 von Fresenhagen auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin um

Nach seinem Tod war das „Rio-Reiser-Haus“ eine „Pilgerstätte für Alternative“, schrieb 2007 die Süddeutsche Zeitung und weiter: „Fresenhagen ist für die deutsche Geschichte seit 1968 so wichtig wie das Goethehaus für den Weimar-Kult.“ Doch das Haus trug sich nicht. Rio Reisers Brüder Gert und Peter Möbius entschlossen sich schweren Herzens zum Verkauf. Die Grabstätte des Musikers, errichtet mit einer Ausnahmegenehmigung unter einem Baum vor seinem Arbeitszimmer, wurde 2011 auf den Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin verlegt. Das Haus fand 2014 eine neue Besitzerin, die, wie es hieß, von der „Freien Republik Fresenhagen“ und dem prominenten Vorbewohner zuvor kaum etwas gehört hatte.

Prof. Dr. Thomas Steensen (0422*)

Quellen/Literatur: Till Briegleb: Es herrscht Duz-Zwang. In: Süddeutsche Zeitung, 21. August 2007; Dirk Nishen (Hrsg.): Ton Steine Scherben. Geschichten, Noten, Texte und Fotos aus 15 Jahren, Berlin 1985, Neuauflage 1997; Rio Reiser: König von Deutschland. Erinnerungen an Ton Steine Scherben und mehr. Erzählt von ihm selbst und Hannes Eyber, Köln 1994, Neuauflage Berlin 2001; Hartmut El Kurdi: Schwarzrote Pop-Perlen, Hannover 2001; Gert Möbius: Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser, Biografie, Berlin 2016; Kai Sichtermann, Jens Johler, Christian Stahl: Keine Macht für Niemand. Die Geschichte der Ton Steine Scherben. Erweiterte Neuausgabe, Berlin 2003 (Erstausgabe 2000); Wolfgang Seidel (Hrsg.): Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben, Mainz 2005; Thomas Steensen: Kuhfladen statt Kommunismus. Die „Freie Republik Fresenhagen“. In: Ders.: Nordfriesland – von einst bis jetzt, Husum 2022, S. 371–373.

Abbildungen: Vignette/Rio Reiser, Im Probenraum in Fresenhagen: Sammlung Gert Möbius; Haus in Fresenhagen/Grab in Berlin: Thomas Steensen