Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs strömten etwa eine Million Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten nach Schleswig-Holstein. Innerhalb weniger Monate erhöhte sich die Einwohnerzahl um eine Million Menschen auf 2,6 Millionen. Die Folge war ein erheblicher Mangel an Wohnraum, Kleidung, Nahrung und Heizstoffen. Das Nebeneinander von Eingesessenen und Flüchtlingen führte zu erheblichen Spannungen. Erst mit der Einführung der D-Mark im Juni 1948 kehrte eine gewisse Stabilität zurück. Der nicht zuletzt durch den Marshallplan einsetzende wirtschaftliche Aufschwung führte seit Anfang der 1950er Jahre dazu, dass sich die Lage entspannte.

Flüchtlinge suchen eine neue Heimat

Flucht und Vertreibung waren – vor allem in Schleswig-Holstein – zentrale Themen nach dem Kriegsende und deshalb auch Thema einer Briefmarke
Flucht und Vertreibung waren – vor allem in Schleswig-Holstein – zentrale Themen nach dem Kriegsende und deshalb auch Thema einer Briefmarke

Der enorme Bevölkerungszuwachs führte zu einem erheblichen Strukturwandel in Schleswig-Holstein. Auf vier Einheimische kamen drei ‘Fremde‘. Die meisten von ihnen wurden in Wohnungen und Häusern einquartiert, weitaus weniger in provisorischen Flüchtlingslagern. Die Baracken und vor allem die halbrunden „Nissenhütten“ prägen jedoch bis heute das Erinnern an diese Zeit. 1955 gab es noch 513 solcher Lager in Schleswig-Holstein, die knapp 68.000 Menschen beherbergten. Das erzwungene Zusammenleben war schwierig. Die Raumnot sowie die gemeinsame Nutzung von Bad und Küche führten des Öfteren zu Streit. In manchen Fällen bedurfte es polizeilicher Gewalt, um Flüchtlingen Einlass zu verschaffen. Die Bewohner hatten sie auf die Straße gesetzt und Tür und Tor verriegelt. In den Augen der Einheimischen stellten die Flüchtlinge Fremde und Außenseiter dar. Es kam vor, dass sie als „Pollacken“ beschimpft und bei der Arbeitssuche oder in Lebensmittelgeschäften benachteiligt wurden. Die Lage entspannte sich erst Anfang der 1950er Jahre als ein Teil der Flüchtlinge in den Süden umzog und in Schleswig-Holstein im großen Stil Siedlungen entstanden. Noch heute weisen Straßenschilder wie Memelweg, Pommernring, Königsberger Straße auf den Ursprung dieser Siedlungen hin.

Das Ende des Grenzkampfes

Mit einem großen Bauprogramm - wie hier in Kiel – wurde versucht, die Verluste an Wohnraum durch die Bombardierungen auszugleichen und neuen für die Flüchtlinge zu schaffen
Mit einem großen Bauprogramm – wie hier in Kiel – wurde versucht, die Verluste an Wohnraum durch die Bombardierungen auszugleichen und neuen für die Flüchtlinge zu schaffen

Vor allem nach der Übernahme der Regierung durch die CDU hatte sich am Anfang der 1950er Jahre der sogenannte „Grenzkampf“ zugespitzt. Die „Neudänische Bewegung“ mit dem Ziel, den Landesteil Schleswig zu einem Teil Dänemarks zu machen, erhielt großen Zulauf. Das wurde für den Bestand des neuen Bundeslandes als Gefahr angesehen. Der CDU-Ministerpräsident Friedrich-Wilhelm Lübke (*1887-1954†) versuchte alles, um der auch aus wirtschaftlichen Gründen sprunghaft wachsenden dänischen Minderheit Paroli zu bieten. Erst nach dessen Tod 1954 gelang es, den Grenzkampf zu beenden. Der Anstoß dafür kam aus der Bundespolitik. Kanzler Konrad Adenauer (*1876-1967†) betrieb die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO und brauchte dafür den Zuspruch Dänemarks. Das Königreich wiederum wollte die Minderheitenprobleme im Grenzland lösen. Das passierte schließlich 1955 mit den Bonn-Kopenhagener-Erklärungen. Sie garantierten die Bekenntnisfreiheit für die deutsche Minderheit in Dänemark und die dänische in Schleswig, sowie die Gleichstellung im jeweiligen Land. Damit endete der Grenzkampf.

Pommerscher Kaviar, Mohnkuchen und Rügenwalder Teewurst

Die größtenteils aus Pommern und Ostpreußen stammenden Flüchtlinge veränderten auch die landestypische Küche. Beide Seiten mussten sich mit unbekannten Gerichten und unterschiedlichen Bezeichnungen auseinandersetzen. In Ostpreußen war der Verzehr von Fliederbeeren nicht nur ungewöhnlich, sondern galt als schädlich. Unter Pfannkuchen verstanden sie das faustgroße Schmalzgebäck, von Norddeutschen Berliner genannt. Mehlpfannkuchen hießen dagegen Flinsen. Für die Einheimischen waren Klöße aus Kartoffeln ebenso neu wie der Gebrauch von Mohn als Backzutat. Als ebenso unbekannt galt der „Pommerscher Kaviar“, ein Brotaufstrich aus feingehacktem, rohem Gänsefett. Die Zugabe von Majoran führte zur optischen Ähnlichkeit mit Kaviar. Dieses gehaltvolle Gericht lieferte während der kalten Wintermonate schnell notwendige Kalorien. In den ersten Nachkriegsjahren befand er sich auch im Sortiment des aus dem pommerschen Rügenwalde in den Norden geflohenen Fleischermeisters Wilhelm Brandenburg. Sein bekanntestes Produkt blieb jedoch die bereits seit 1900 hergestellte „Rügenwalder Teewurst“. Neuer Herstellungsort wurde Timmendorf, weil die gute ozonhaltige Küstenluft nach Ansicht Brandenburgs die Qualität der Wurst verbessere.

Nicht mehr Menschen zweiter Klasse sein

Mit den Flüchtlingen aus Ostpreußen lernten die Schleswig-Holsteiner neues Essen kennen und lieben wie etwa Mohnkuchen
Mit den Flüchtlingen aus Ostpreußen lernten die Schleswig-Holsteiner neues Essen kennen und lieben wie etwa Mohnkuchen

Der wirtschaftliche Aufschwung der 1950er Jahre brachte einen enormen Beschäftigungszuwachs. Dabei verlagerte sich die Erwerbstätigkeit in Schleswig-Holstein aus der Landwirtschaft in den Dienstleistungsbereich, also hin zu Handel, Gewerbe und Verkehr. Auch die schwerindustrielle Produktion wie Fahrzeug-, Maschinen- und Schiffbau wurde bedeutender. In diesem Sektor kam es in den Jahren 1956/57 zu einem 114 Tage langen Streik der Metallarbeiter. Sie forderten eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und mehr und bezahlten Urlaub. Ziel des Arbeitskampfes war jedoch, dass die Arbeiter den Angestellten gleichgestellt wurden. Die Arbeiter wollten nicht mehr „Menschen zweiter Klasse sein“. Gut gefüllte Streikkassen ermöglichten es der IG Metall mit langem Atem zu streiken.

Mit Wohlstandsbauch und Zigarre grinst der Kapitalist noch: kein freier Samstag, kein bezahlter Urlaub, kein Lohn bei Krankheit
Mit Wohlstandsbauch und Zigarre grinst der Kapitalist noch: kein freier Samstag, kein bezahlter Urlaub, kein Lohn bei Krankheit

In der Öffentlichkeit fand die Aktion breiten Zuspruch. Aktionen wie Drei-Prozent-Streik-Rabatt in Kieler Geschäften, Streikrevues und kostenlose Filmvorführungen, Modenschauen und Kaffeerunden für die Ehefrauen sowie Weihnachtsfeiern und -geschenke für die Kinder sollten die Stimmung der Streikenden oben halten. In der Hochphase streikten von Flensburg bis Lauenburg rund 34.000 Arbeiter. Letztendlich wurden nicht alle Forderungen erreicht, jedoch ein Einstieg in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Der bedeutete einen wichtigen Schritt hin zur Gleichberechtigung von Arbeitern und Angestellten. Monate später verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, dessen Inhalt im Wesentlichen das Tarifergebnis widerspiegelte und somit in der ganzen Bundesrepublik Gültigkeit erhielt.

Pendlerverkehr und Programm Nord

Schleswig-Holstein hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine extrem schlechte Infrastruktur. Nach dessen Ende mussten mehr als Dreiviertel der Straßen in Stand gesetzt oder komplett neu gebaut werden. Das Land förderte zwischen 1951 bis 54 den Ausbau des Straßennetzes im großen Umfang. Neue Straßen wie zwischen der Landeshauptstadt und Bad Oldesloe entstanden ebenso wie die „Nordstraße“ von Flensburg bis Kappeln. Die Zahl der PKWs im Land verdoppelte sich zwischen 1950 und 1953 auf 40.000. Ende des Jahrzehnts betrug sie bereits 140.000. Die Technisierung der Landwirtschaft setzte in den Dörfern immer mehr Arbeitskräfte frei. Nachdem Arbeiten und Wohnen am Ort sich schon weitgehend getrennt hatten, begann nun die Zeit der Pendler: Im Dorf wohnen und in der Stadt arbeiten wurde für viele zum neuen Alltag.

„Landunter“ hinter den Deichen: Ein „normales Bild“ nicht nur in den Marschen bis in die 1960er Jahre
„Landunter“ hinter den Deichen: Ein „normales Bild“ nicht nur in den Marschen bis in die 1960er Jahre

1953 schob die CDU-Regierung das Programm Nord an. Auch um die Pro-dänische Stimmung zu brechen sollte der strukturschwache Norden entwickelt werden. Im Kern und am Anfang war es vor allem ein Programm für die Landwirtschaft, die vor allen durch Flurbereinigung konkurrenzfähig werden sollte. Ziel war es, die bearbeiteten Flächen um die Höfe zusammenzufassen. Deshalb entstanden auch vor den Dörfern neue Aussiedlerhöfe. Um für Flüchtlinge und Heimatvertriebe eine Perspektive zu schaffen, wurde neues Kulturland gewonnen. Es entstanden rund 10.000 neue Siedlerstellen auf einer Fläche von 100.000 Hektar. Auf der Geest wurde durch Windschutz das Abtragen der fruchtbaren Humusschicht – die Erosion – bekämpft. Es gelang dort große Flächen für den Grünlandbetrieb, also die Milchwirtschaft, nutzbar zu machen. Insgesamt veränderte das Programm Nord über 470.000 Hektar im Norden und an der Westküste. Damit wurde diese bisher unterentwickelte Region fit für die Technisierung und die Spezialisierung der Landwirtschaft. Das Programm Nord veränderte nicht nur das Landschaftsbild, sondern schuf die Grundlagen einer bis heute zukunftsfähigen Infrastruktur.

„Die Mädels vom Immenhof“

In den chaotischen Verhältnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit lockerten sich familiäre Normen und Sexualmoral. Die Zahl der Scheidungen, die der unehelichen Geburten und die der Geschlechtskrankheiten stieg an. Als sich in den 1950er Jahren die Lage langsam wieder normalisierte, besannen sich die Menschen auf alte Werte und Traditionen. Die Männer beanspruchten ihre Rolle als Familienoberhaupt und Ernährer zurück, die während des Krieges häufig von den Frauen übernommen werden musste. Die konservative Politik der Adenauer-Zeit propagierte Mehrkinderfamilien mit Hausfrau und Mutter, die keiner Erwerbstätigkeit nachgeht, als Idealform der Familie. Erinnerungen an einen fürchterlichen Krieg und die Gräueltaten während der NS-Zeit weckten das Bedürfnis nach einer „heilen Welt“. Heimatliche Literatur erreichte hohe Auflagen und Kinofilme, wie der in der schleswig-holsteinischen Schweiz gedrehte Film „Die Mädels vom Immenhof“, füllten die Kinos.

Strandleben mit Transistorradio in den 1950er Jahren
Strandleben mit Transistorradio in den 1950er Jahren

„Samstags gehört Vati mir“ war der Slogan, mit dem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) für die Fünf-Tage-Woche stritt. 1956 war dieses Ziel erreicht. Im selben Jahr gelang es der IG Metall die Wochenarbeitszeit von 48 auf 45 Stunden zu senken. Die neugewonnene freie Zeit verbrachte man vorwiegend im häuslichen und familiären Bereich. Gartenarbeit und Zeitungslektüre füllten das Wochenende. Noch war das Radio die zentrale Quelle für Information und Unterhaltung. Es wurde zum Ende der 1950er Jahre löste jedoch in immer mehr Wohnstuben vom Fernseher abgelöst. Die Freizeit verbrachten die meisten noch im eigenen Land. Badeurlaube an den Küsten oder Ausflugsfahrten auf dem Nord-Ostsee-Kanal und zu den Inseln waren typisch.

Mareike Stein (1015/0921)

Literatur: Bohn, Robert: Geschichte Schleswig-Holsteins. München 2006 (Beck’sche Reihe 2615).

Carstens, Uwe: Leben im Flüchtlingslager. Ein Kapital deutscher Nachkriegsgeschichte. Husum 1994.

Diverse Beiträge in: Danker, Uwe; Schliesky, Utz (Hgg.): Schleswig-Holstein 1800 bis heute. Eine historische Landeskunde. Husum 2014, S. 264-327

Fink, Troels: Forhandlingerne mellem Danmark og Tyskland i 1955 om de slesvigske mindretal. København 2001.

Heidrich, Hermann; Hillenstedt, Ilka E. (Hgg.): Fremdes Zuhause. Flüchtlinge und Vertriebene in Schleswig-Holstein nach 1945. Neumünster 2009.

Jessen-Klingenberg, Manfred; Bonn-Kopenhagener-Erklärungen, SH A bis Z www.https://geschichte-s-h.de, Kiel 2005

Jewski, Katja: Stiefkinder des Fortschritts? Ländliche Jugend und Jugendkultur in Schleswig-Holstein in den 50er Jahren. Frankfurt am Main 2003 (Europäische Hochschulschriften Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 979).

Junge, Werner: Das Programm Nord – Ein Land verändert sein Gesicht. In: Fleischhauer, Carsten/Turkowski, Gutram (Hgg.): Schleswig-Holsteinische Erinnerungsorte, Heide 2006, S. 96 -103

Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München 2008.

Lange, Ulrich (Hrsg.). Geschichte Schleswig-Holsteins. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neumünster 2004.

Stamp, Friedrich: Arbeiter in Bewegung. Die Geschichte der Metallgewerkschaften in Schleswig-Holstein. Malente 1997.

Trende, Frank: Schleswig-Holstein in den 50er Jahren. Heide 2006 (Kleine Schleswig-Holstein-Bücher 57)

 Bildquellen: Wohnungsbau, Streik, Autowerkstatt: Stadtarchiv Kiel, 2.4 Bildnachlass Hermann Nafzger; Mohnkuchen: Mareike Stein; Karikatur: Streiknachrichten aus Schleswig-Holstein Nr. 50 am 9. Januar 1957, Hrsg. IGM, Frankfurt a.M., 1976 ; Blanke Marsch: Archiv des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten des Landes SH; Strandleben: Wikepedia – CCBY-SA 3.0 de