Er gilt als Erfinder des „modernen“ Gymnasiums und war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Wissenschaftler nicht nur national eine Berühmtheit, die sich sogar traute, öffentlich Kaiser Wilhelm II. zu widersprechen: Friedrich Paulsen. Sein Lebensweg führte ihn aus dem dörflichen nordfriesischen Langenhorn im noch Dänischen Gesamtstaat an die Berliner Universität. Obwohl er in der Metropole des aufstrebenden deutschen Kaiserreichs wirkte, verlor er nie den Bezug zu seiner nordfriesischen Heimat. Sie wirkte in seinem Werk nach und trug dazu bei, dass Paulsen in einer für seine Zeit in der Wissenschaft ungewöhnlichen Klarheit schrieb. Seine Werke wurden von Kollegen deshalb kritisiert, manche von Paulsen Schriften aber als Lebenshilfe zu „Bestsellern“ seiner Epoche.
Jugend auf dem Land
Friedrich Paulsen wurde am 16. Juli 1846 als erstes Kind des Kleinbauern Paul Frerk Paulsen und seiner Frau Christine (geb. Ketelsen) geboren. Er blieb ein Einzelkind. Nach der Dorfschule wechselte er 1859 in die Schule von Sönke Brodersen, der ihn nach Kräften förderte. So konnte Paulsen 1863 in die Sekunda des Christianeums in Altona wechseln. Drei Jahre später bestand er sein Abitur und begann in Erlangen, Theologie zu studieren. Nach drei Semestern wechselte er an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin und zur Philosophie. Nach Doktorarbeit und Habilitation erhielt er 1877 eine außerordentliche Professur für Pädagogik, damals noch mit der Philosophie verbunden. Vor allem als Bildungshistoriker machte er sich einen Namen. 1894 schließlich wurde Paulsen Ordinarius für Philosophie und Pädagogik und avancierte zu einem der einflussreichsten Professoren seiner Zeit.
Ein neuer Begriff von Bildung
Paulsen zog in seinen pädagogischen Schriften insbesondere gegen einen seiner Ansicht nach verbreiteten, jedoch für ihn völlig falschen Bildungsbegriff zu Felde. Der fange damit an, „dass man sich schämt, mit den Händen zu arbeiten“. Das Volk in „Gebildete“ und „Ungebildete“ zu spalten, betrachtete er als verhängnisvoll. Er setzte sich dagegen für lebenslanges Lernen und namentlich Volkshochschulen als „Hochschulen des Volkes“ ein. Bildung hatte in den Augen Paulsens wenig mit Äußerlichkeiten, mit der Kenntnis bedeutender Dichter oder gar dem häufigen Gebrauch von Fremdwörtern zu tun. Auch ein Bauer oder Handwerker konnte demnach als gebildet gelten: Selbst wenn ein Mensch „von Goethe und Schiller vielleicht noch nie den Namen gehört hat“, können wir ihn trotzdem „einen wirklich und innerlich durchgebildeten Menschen“ nennen, „wenn er die Mittel, die ihm die Verhältnisse zu Gebote gestellt haben, mit Verstand benutzt hat, sich von der natürlichen und geschichtlichen Welt, in der er lebt, eine in sich einheitliche Anschauung zu bilden, und er sich nun mit selbständigem Urteil in seinem Kreis zurechtfindet“. Denn: „Nicht, was man weiß, sondern was man mit seinem Wissen anzufangen weiß, ist entscheidend für die Bildung einer Persönlichkeit.“ Das leitete Paulsen auch aus seiner Jugend in einem nordfriesischen Dorf ab. Kaum ein anderer Gelehrter übertrug Prägungen aus seiner Herkunftsregion so stark auf seine wissenschaftliche Arbeit wie Friedrich Paulsen. Die Unabhängigkeit der Bauern und der Seefahrer in der friesischen Gesellschaft beeindruckte ihn; seine Vorfahren stammten von den Halligen Oland und Langeneß. Die bäuerliche Gemeinschaft seines Geburtsorts Langenhorn erlebte er als seine Heimat. Darauf nahm er häufig Bezug. Er kam zu dem Schluss: „Wenn ich nicht Professor geworden wäre, wäre es doch am Ende das Beste für mich gewesen, Bauer zu werden.“
Die Dorfschule als Reformmodell
Auch ein wesentliches Unterrichtsprinzip leitete Paulsen aus seiner Langenhorner Schulzeit ab. Der Lehrer solle vom Nahen zum Fernen gehen, also die unmittelbare Umwelt der Schüler einbeziehen und von hier aus die größeren Zusammenhänge entwickeln. So hatte es Paulsen in der „Westerschule“ bei seinem von ihm verehrten Lehrer Sönke Brodersen erfahren. Er entwickelte daraus eine umfassend angelegte „Heimatkunde“, die er auch als Grundlage staatsbürgerlicher Bildung ansah. Paulsen kann als der geistige Vater des modernen Gymnasiums bezeichnet werden. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts eröffnete allein das altsprachliche Gymnasium den Weg zum Universitätsstudium. Obwohl Paulsen den Bildungswert der alten Sprachen hoch einschätzte, hielt er das im Industriezeitalter für überholt. Statt des lateinischen Aufsatzes forderte er einen deutschen für das Abitur. Er verlangte die Gleichberechtigung der Realgymnasien und Oberrealschulen, in denen die neuen Sprachen und die Naturwissenschaften im Vordergrund standen. Zu dieser Erkenntnis hatte ihn nicht zuletzt die Arbeit an seinem ersten großen wissenschaftlichen Werk geführt, nämlich die „Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart“. Als das Buch 1884 erschien, entrüstete sich die gelehrte Welt. Seine Position vertrat er jedoch standhaft weiter, auch in einer Kontroverse mit Wilhelm II. (*1859/1888-1918/1941†) auf der Berliner Schulkonferenz 1890. Paulsen notierte: „… der Kaiser … sah mich mit seinen harten blauen Augen starr und fast drohend an“. Paulsen blieb beharrlich und setzte sich in der Schulreform 1901 schließlich durch. Ihm kam es nach den Worten Thomas Nipperdeys darauf an, „das Gymnasium aus einer Schule der besitzenden Klassen wieder zu einer Schule der Talente aus allen Klassen“ zu machen.
Bestsellerautor Paulsen
Friedrich Paulsen zweites großes Werk wurde 1889 das „System der Ethik“, das er mehrfach erweiterte, bis zu einem Umfang von 1132 Seiten. Paulsen befasste sich mit Begriffen wie Tugend, Moral, Ehre, Gewissen, Gerechtigkeit. Das Buch wurde in vielen Häusern zu einem Ratgeber für alle Lebenslagen. Ihn beschäftigten etwa der zunehmende Konkurrenzdruck und die Überreiztheit im aufstrebenden Kaiserreich. Sein Rezept: Natur und Einsamkeit befreien vom Druck der neuen Zeit. In dem Buch fand sich auch das Konzept einer „Fortbildungsschule“ sowie der „Umriss einer Staats- und Gesellschaftslehre“. Daraus entwickelten sich letztlich die heutige Berufsschule sowie die politische Bildungsarbeit in Deutschland. Das „System der Ethik“ wurde auch ins Chinesische übersetzt – und wurde von einem anderen Bauernsohn, dem späteren Revolutionsführer und Staatschef Mao Zedong (*1893-1976†), eifrig studiert.
Volksphilosoph Paulsen
Nicht weniger verbreitet im gebildeten Bürgertum des Kaiserreichs war die 1892 erstmals erschienene „Einleitung in die Philosophie“. Paulsen führte in die Philosophie ein „nicht als eine in sich abgeschlossene, wo möglich durch eine Geheimsprache noch mehr isolierte Wissenschaft, sondern als Welt- und Weisheitslehre“, denn: „Es ist eine falsche Vornehmheit, bloß für Professoren schreiben zu wollen.“ Bis 1929 wurde das Buch in 42 Auflagen gedruckt. Gerade weil es so populär war, wurde es von Paulsens Kollegen in Deutschland auch heftig kritisiert. Seine Hauptwerke wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Besonders in den USA wurden sie stark beachtet und an den Universitäten als „text-books“ verwendet. Während hierzulande 1909 nur seine Jugenderinnerungen verlegt wurden, erschienen seine Lebenserinnerungen 1938 in New York fast in voller Länge auf Englisch. Das Vorwort schrieb Friedensnobelpreisträger Nicholas Murray Butler (*1862–1947†), Professor für Philosophie und Pädagogik. Sein Urteil: „This is a fascinating book.“ Erst zu seinem 100. Todestag 2008 wurden die Erinnerungen erstmals vollständig in deutscher Sprache veröffentlicht.
Ein moderner Denker
Gerade am Beginn des 20. Jahrhunderts begann in Deutschland „Heimat“ zu einer Ideologie zu werden. Von der „Scholle“, vom „unverfälschten Landleben“ sollte die Rettung kommen vor der „Asphaltkultur“ der Großstädte. Die Friesen wurden zu einem ganz besonderen, „echten“ und „kernigen“ Menschenschlag verklärt. Von solcher Heimat- oder Friesentümelei hielt der Friese Paulsen nichts. „Heimatkunde“ war für ihn keine Ideologie. Sie sollte anleiten zum Verstehen, zum eigenen Forschen, zum Fragen. Fragen an seine Zeit hat Paulsen immer wieder gestellt. Er mischte sich ein, griff zur Feder, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Sein Maß und sein Ideal war dabei die Gesellschaft seiner dörflichen Jugend – kaum nostalgisch idealisiert, sondern klar darauf rückschauend, dass diese zwar einerseits Respekt etwa der Jüngeren vor der älteren Generation verlangte, jedoch keine Klassen kannte und Leistung nicht in Kopf- und Handarbeit trennte. Er empfand das als „demokratischen Charakter“ und sah es als Gegensatz zur ständischen „preußischen Welt“, die nach „Gemeinen“ und „Kommandierenden“ unterschied. Als Gelehrter zog sich Paulsen nicht in den „Elfenbeinturm“ der Wissenschaft zurück. Er sah die deutsche Universität als das „moralische Gewissen der Nation“, wie er 1902 schrieb. Als junger Mann war er begeistert von den Ideen des Sozialdemokraten Ferdinand Lassalle. Sie entsprachen seinen Idealen von Gleichheit und Freiheit, die er auch aus der friesischen Tradition herleitete. Bismarcks „Sozialistengesetz“ von 1878 lehnte er entschieden ab. Später wurden seine politischen Ansichten konservativer. Er hielt an der Monarchie als Staatsform fest und plädierte für ein „soziales Volkskönigtum“. Den übertriebenen Nationalismus seiner Zeit kritisierte er. Er hoffte auf die „vereinigten Staaten von Europa“ und gab zu bedenken: „Hass und Verachtung sind keine schönen und keine gedeihlichen Gefühle, auch nicht unter den Nationen. … Die intensive Berührung der Nationalitäten (auch mehrerer in einem Staat) ist Gewinn für ihre Kultur.“
Ein politischer Wissenschaftler
In eine politische Schublade wird man Paulsen nicht stecken können. Vielleicht kann man ihn in seinen letzten Lebensjahren als einen gemäßigten Liberalen einschätzen. Ein Grundzug blieb sein Leben lang bestehen. Er war misstrauisch gegenüber dem „Zeitgeist“, gegenüber dem, was fast alle denken. An einer Stelle seiner Lebenserinnerungen schreibt er: „… vielleicht war ein wenig von dem allgemeinen Oppositionsgeist dabei, der mich von jeher geneigt gemacht hat, die Sache des allgemein Verworfenen lieber als die des allgemein Anerkannten zu führen.“ Er scheute sich nicht anzuecken. So setzte er sich für einen der SPD angehörigen jüdischen Privatdozenten ein, den das Kultusministerium aus dem Amt drängen wollte. Für die Freiheit der Andersdenkenden trat er auch ein, als „fortschrittliche“ Studenten in Berlin den Katholiken das Recht nehmen wollten, eigene Vereine zu bilden. Paulsen spricht von einem „Freiheitskampf’ zur Unterdrückung der Freiheit“ und meint: „Unter Freiheit versteht die Masse immer und ewig dasselbe, nämlich das Recht und die Macht, die Gegner zu unterdrücken.“
Ein Leben im Überschaubaren
Friedrich Paulsen war überaus erfolgreich. Privat blieb er einem bürgerlichen Lebensstil verhaftet. 1877 heiratete er Emilie Ferchel, Pflegetochter des Politikers Justus von Gruner. Sie schenkte ihm zwei Töchter und zwei Söhne, doch verstarb sie schon 1883. Neun Jahre später heiratete Paulsen seine Schwägerin Laura Ferchel. In seiner Familie hielt er ganz am traditionellen Rollenverständnis fest. Zum Lebensmittelpunkt wurde seine selbst entworfene Villa in Steglitz. Paulsen kehrte oft nach Nordfriesland zurück, reiste gerne und ausgedehnt durch Deutschland und mehrere Länder Europas. Refugium wurde ihm zuletzt auch ein Haus am Starnberger See in Bayern. Mit nur 62 Jahren starb Friedrich Paulsen. Auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg wurde er in einem Ehrengrab der Stadt Berlin beigesetzt.
Thomas Steensen (TdM 0510 /0721)
Literatur: Friedrich Paulsen, Aus meinem Leben. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben von Dieter Lohmeier und Thomas Steensen, 2008, ISBN 978-3-88007-346-3, Bredstedt, Nordfriisk Instituut.
Bildquellen: Archiv Nordfriisk Instituut