Toni Jensen, profilierte SPD-Politikerin in der Weimarer Republik, Motor beim Wiederaufbau des Schulsystems in Kiel nach 1945

Eine Frau baut Kiels Schulen wieder auf

Wer sich mit dem Wiederaufbau des Bildungs- und Kulturwesens nach dem zweiten Weltkrieg in der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt Kiel befasst, stolpert über den Namen Thomasine „Toni“ Jensen (*1891-1970†). Sie prägte die Kieler Stadtgeschichte mit. Toni Jensen hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur unermüdlich für den Wiederaufbau der Schulen eingesetzt, sondern auch das Bildungssystem umfassend erneuert. Als städtische Dezernentin für Schule und Kultur war sie offen für reformpädagogische Ansätze. Ihr Leben lang strebte sie zudem nach Chancengleichheit für alle Menschen. Insbesondere lag ihr am Herzen, der Arbeiterschaft den Zugang zu höherer Bildung zu ermöglichen. Dadurch wurde Toni Jensen zu einer der wenigen Frauen, die in der Kieler Geschichte eine größere Bedeutung erlangte. 

Als Frau im Preußischen Landtag

Als Kieler Stadtschulrätin wurde die am 25. September 1891 in Tönning geborene Toni Jensen nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Ihr politisches Engagement begann jedoch bereits nach dem Ersten Weltkrieg. Nach ihrer Ausbildung zur Volksschullehrerin und erster Praxis im Kieler Schuldienst wuchs Jensen rasch aus ihrer Lehrtätigkeit heraus und begann sich politisch zu engagieren. Mit dem Beginn der Weimarer Republik gewann sie schnell so viel Ansehen in der SPD, dass sie von 1919 bis 1924 für die Sozialdemokraten in der Kieler Stadtvertretung saß. Schon 1920 ließ sich Jensen aus dem Schuldienst beurlauben, um mit noch nicht einmal 30 Jahren von 1921 bis 1933 als SPD-Abgeordnete für Kiel im Preußischen Landtag in Berlin zu agieren. Als Mitglied des Unterrichts- und später auch des Hauptausschusses gestaltete sie maßgeblich bildungs- und sozialpolitischer Fragen in Preußen mit. Ihr besonderes Anliegen war es, die Volkschulen zu stärken. Toni Jensen entwickelte in dieser Zeit ihre schulpolitischen Vorstellungen weiter, forderte gleiche Bildung für alle und konzentrierte sich dabei zunehmend auch auf die Volkshochschulen – also die Erwachsenenbildung. Nach ihrem Dafürhalten sollte die Schule gleichermaßen eine Arbeitsstätte von Frauen und Männern sein, Jungen und Mädchen sollten gemeinsam beschult werden. Außerdem lehnte sie eine konfessionelle Ausrichtung der Schul- und Lehrerbildung ab und konstatierte: „Eine geschlossene Weltanschauung kann die Schule der Jugend nicht mit auf den Weg geben, aber das Rüstzeug, sich eine zu bauen.“ Auch über den Schulkontext hinaus wurde die Gleichberechtigung der Frauen von Jensen unterstützt und aktiv vorangetrieben. 

Toni Jensen und das NS-Regime

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Kieler Sozialdemokratin plötzlich aus allen Ämtern entfernt und erhielt das Verbot, sich politisch zu betätigen. Überdies blieb ihr, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, die Rückkehr in den Schuldienst verwehrt. Jensen zog sich daraufhin aus dem gesellschaftlich-öffentlichen Leben zurück, bestritt ihren Lebensunterhalt als Privatlehrerin und Privatsekretärin und unternahm Reisen in die USA und nach Großbritannien, wo sie sich mit den dortigen neuen Schulkonzepten befasste. 

Bildungspolitikerin der Stunde Null

Stadtschulrätin Toni Jensen ergreift den Hammer am Grundstein.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befand sich das Kieler Bildungswesen am Boden. Durch die Luftangriffe lagen viele Schulen in Trümmern. Toni Jensen stellte sich umgehend für deren Wiederaufbau zur Verfügung. Indem sie an ihre alten SPD-Kontakte anknüpfte und auf ihre breite Expertise verwies, wurde sie schon im Dezember 1945 mit Einverständnis der britischen Militärregierung zum Mitglied der Kieler Ratsversammlung und zur Vorsitzenden der Kommission Schule und Kultur ernannt. Kurz darauf leitete sie als städtische Oberschulrätin das Schul- und Kulturamt der Stadt. 

Der Neustart der Schulen

Im April 1947 übernahm sie als Stadtschulrätin das neu organisierte Dezernat für Schule und Kultur. Nun hatte sie die Aufsicht über die städtischen Volks- und Mittelschulen. Toni Jensen bemühte sich, die Situation an den Schulen zu verbessern, zweckentfremdete Schulräume zurückzugewinnen, Lehr- und Lernmittel sowie Schulspeisungen zu organisieren. Bereits 1949 konnte mit dem Neubau von drei Schulen begonnen werden. Beim Aufbau sollten nach dem Willen von Toni Jensen auf allen Ebenen reformpädagogische Ansätze berücksichtigt werden und einfließen. Denn nicht nur die äußere Form des Schulwesens sollte sich verändern, die Gelegenheit sollte vielmehr auch für eine innere Erneuerung, insbesondere der Jensen so wichtigen Volksschulen, genutzt werden. 

Licht, Luft und eine neue Pädagogik kam mit den über 20 Pavillonschulen nach Kiel, die in der Zeit von Toni Jensen durch Stadtbaurat Rudolf Schröder realisiert wurden

Toni Jensen und die Kultur

Zugleich widmete sich Toni Jensen in ihrem Amt dem Wiederaufbau und der Förderung des städtischen Kulturangebots. So stellte sie den zeitnahen Wiederaufbau des Opernhauses sicher und nahm gemeinsam mit Oberbürgermeister Andreas Gayk (*1893–1954†) eine federführende Rolle bei der Einrichtung eines Kieler Kultursenats ein, dessen stellvertretende Vorsitzende sie wurde. 

Eine Frau ohne Privatleben …

Noch nach ihrer Pensionierung 1956 blieb Jensen politisch aktiv und engagierte sich unter anderem als ehrenamtliche Stadträtin für Berufs- und Fachschulen und als SPD-Ratsherrin, ehe sie am 20. Oktober 1970 unerwartet verstarb. Obgleich Toni Jensen durch ihr politisches Wirken gerade für Kinder und Jugendliche entscheidende Verbesserungen erreichte und zu Fortschritten in der Kultur- und Bildungspolitik beitrug, heiratete sie nie und bekam auch selbst keine Kinder. Generell ist über ihr Privatleben neben ihrem langjährigen Wohnsitz in der Hansastraße Nr. 99 nur wenig bekannt. Sie scheint auch privat Gefallen an kulturellen Veranstaltungen gefunden zu haben und galt bisweilen als eigenwillig oder schroff. Außerdem habe sie sich wohl wenig für Repräsentationen und Eitelkeiten interessiert, sich lieber aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und bemüht, die eigenen Emotionen im Berufs- und Privatleben unter Kontrolle zu halten.

… und hoher öffentlicher Anerkennung

Der Pr‰sident der Industrie- und Handelskammer zu Kiel (IHK) Konsul Heinz Seibel (1.v.l.) ehrt Stadtr‰tin Toni Jensen (3.v.l.) f¸r Ihre Verdienste um das berufliche Bildungswesen.

In ihrem Einsatz für das städtische Bildungswesen ging es der Kommunalpolitikerin nicht alleine darum, den alten Schulbetrieb zu rekonstruieren, sondern offen neue Bauweisen und Unterrichtsmethoden einzuführen. Ihr fortschrittlicher Anspruch und ihr energisches Eintreten brachten ihr hohes Ansehen ein, sodass sie, obgleich sie nicht die alleinige Verantwortung trug, als „verdiente Neuschöpferin des Kieler Schulwesens“ galt, durch deren Einsatz das zerstörte Kiel Schritt für Schritt seine politischen und sozialen Funktionen wieder aufnehmen konnte.

Felicia Engelhard (1122*)

Dieses Porträt war Teil einer Serie, die im Vorfeld des 4.“Tages der Schleswig-Holsteinischen Geschichte“ am 2. September 2023 in Reinbek entstanden ist. Wie der Tag ist auch der Tagungsband „(UN)SICHTBAR – Frauen in der Geschichte Schleswig-Holsteins“ überschrieben

Literatur: Dieser Beitrag ist ein umformulierter Auszug aus dem folgenden Aufsatz: Felicia E. Engelhard, Die verdiente Neuschöpferin des Kieler Schulwesens. Leben und Wirken der kommunalen Bildungspolitikerin Toni Jensen (1891–1970), in: Klaus Gereon Beuckers (Hg.), Licht, Luft und eine neue Pädagogik. Die Kieler Pavillonschulen und der Schulbau der 1920er bis 1950er Jahre (Kieler Kunsthistorische Studien Bd. 21), Kiel 2022, S. 213–234; Sabine Jebens-Ibs, Frauen in der schleswig-holsteinischen Politik“, in: Thomas Hermann (Hg.), „Alle Mann an Deck!“ – „Und die Frauen in die Kombüse?“ (Gegenwartsfragen Bd. 70), Kiel 1993, S. 47–148.; Sabine Jebens-Ibs, Kommunalpolitikerinnen der kreisfreien Städte, in: Schleswig-Holsteinische Politikerinnen der Nachkriegszeit. Lebensläufe (Gegenwartsfragen Bd. 73), Kiel 1994, S. 77–113; Martin Schwab, Toni Jensen, eine Kieler Bildungspolitikerin 1891–1970, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, Bd. 77, 1993, S. 41–63.

Abbildungen: die Rechte für alle hier verwendeten Bilder liegen beim Stadtarchiv Kiel: Vignette/Porträt – Foto: Hermann Nafzger, 1.1 FotoSlg 84093; Grundsteinlegung Goetheschule – Foto: Friedrich Magnussen;  2.3 Magnussen 20373; Pavillonschule – Foto Peter Cornelius 1952; Ehrung – Foto: Friedrich Magnussen;  2.3 Magnussen 77483.