Prof. Dr. Detlev Kraack (links) überraschte Dr. Karsten Dölger. Er hatte nicht geahnt, den Preis der GSHG 2023 zu gewinnen. GSHG-Vorsitzender Prof. Dr. Thomas Steensen (rechst) freute sich mit. Foto: Junge

Ein Preis für einen kleinen Band: Dr. Karsten Dölger

Laudatio von Professor Dr. Detlev Kraack anlässlich der Verleihung des Preises der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte (GSHG) 2023 am 2. September 2023 im Schloss Reinbek (in Auszügen). Der Preis wird seit 2009 vergeben und ist Dank der großzügigen Unterstützung der Brunswiker Stiftung mit 5.000 € dotiert.

Waren es in der Vergangenheit oftmals umfangreiche, großformatige und prachtvoll ausgestattete Grundlagenwerke von bisweilen sogar mehreren Bänden, die mit dem Preis unserer Gesellschaft ausgezeichnet wurden, mag das Votum, zu dem das Preiskomitee in diesem Jahr – wohlgemerkt in großer Einmütigkeit – gelangt ist, auf den ersten Blick überraschen. Das Buch, das in diesem Fall den Impuls zur Preisvergabe vermittelte, kommt bescheiden daher: knapp 150 Seiten im Selbstverlag, nicht einmal Hardcover, die meisten Abbildungen in schwarz-weiß, außen auf dem Umschlag eine in Anlehnung an den Titel eine gestaltete Collage „Kurenwimpel und Schulbaracke“. Der Untertitel: „Der memelländische Flüchtlingslehrer Hans Seigies – 1911-1973 – an den holsteinischen Lagerschulen Groß Nordsee und Jägerslust“. Damit kehrt der Preisträger – Dr. Karsten Dölger – im weiteren Sinn zum Gegenstand seiner von Prof. Dr. Erich Hoffmann betreuten Doktorarbeit über das „Polenlager Jägerslust“ und die polnischen „Displaced Persons“ im Schleswig-Holstein der unmittelbaren Nachkriegszeit zurück, entwickelt diesen aber auf der Grundlage einer ihm von der letzten Lehrerin einer der besagten Schulen gleichsam als Vermächtnis vor vielen Jahren übergebenen Schulchronik weiter. Dass die äußerst vielschichtige Historie und die auf dieser fußende Alltagswirklichkeit der Flüchtlingsschulen in Schleswig-Holstein insgesamt noch gründlicher erforscht gehörten, klingt dabei immer wieder an.

In der vorliegenden Veröffentlichung spiegelt sich nun zum einen Karsten Dölgers in der langjährigen schulischen und zwischendurch im Rahmen einer Abordnung als Oberstudienrat im Hochschuldienst universitären Lehrtätigkeit gewonnene Erfahrung bei der Erschließung und der Vermittlung historischer Gegenstände wider, merkt man dem Werk die aus der wiederholten langjährigen Beschäftigung mit dem Gegenstand erwachsene Reife an. Zum anderen und wohl gerade deshalb verliert sich die Darstellung auch nicht in Kleinteiligkeiten, wie es der Titel ja durchaus befürchten lassen könnte, sondern bettet das Schicksal eines 1911 in Bommelsvitte, einem Vorort Memels, des heutigen Klaipedas, geborenen Memelländers, des besagten Volksschullehrers Hans Saigis, in die Zeitläufte des 20. Jahrhunderts ein. Dabei geht es zunächst um Konflikte in einer multinational geprägten Region Ostmitteleuropas, insbesondere um die aus den Versailler Bestimmungen erwachsenen und im Folgenden noch verschärften Konflikte zwischen der jungen litauischen Staatlichkeit und dem Deutschen Reich. Zu einem der Hauptaustragungsorte dieser nationalen Konflikte und ihrer Konjunkturen wurden – ganz ähnlich übrigens wie bei uns im Lande – die Schulen. Mittendrin Junglehrer Hans Saigies, der nach verschiedenen (Straf-)Versetzungen 1936 schließlich Lehrer in der einklassigen Schule in der Moorkolonie Wabbeln (litauisch Vabalai) in der Mündungsniederung der Memel wurde, bevor er 1941 – dann schon wieder unter deutscher Regie – die Zweite Lehrerprüfung ablegte und unmittelbar im Anschluss daran zum Kriegsdienst eingezogen wurde.

In der Auseinandersetzung mit Saigies ́ und seiner Kollegen Schicksal werden die Erfahrungswelten ausgelotet und die Prägungen eingefangen, die bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in den Flüchtlingsschulen nach dem Zweiten Weltkrieg Wirkung entfalten sollten. Und damit wird die Untersuchung zu einem wichtigen Beitrag zur Geschichte Schleswig- Holsteins im 20. Jahrhundert. Dass die Flüchtlinge aus den östlichen Regionen des Reiches und den diesen angrenzenden baltischen Regionen nicht immer so willkommen waren, wie das die überkommene Meistererzählung von der großen Integrationsleistung der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft glauben machen will, wird hier nur allzu deutlich. Und wenn diese Flüchtlinge 1953 über ihrer Flüchtlingsschule den selbst gefertigten Kurenwimpel – jenen nach alter Tradition aus Holz gefertigten bunten Windanzeiger der auf dem Haff verkehrenden Kähne – aufzogen, um die alte Heimat nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, zeugt dies umgekehrt davon, wie schwer man sich auf Seiten der Geflüchteten mit dem Loslassen tat. Man war zwar in Schleswig-Holstein gelandet, aber angekommen war man noch lange nicht – „Kurenwimpel und Schulbaracke“. Diese sprachlich treffende Synthese ist Ausdruck eine ungemein komplexen und in gewisser Weise ernüchternden Wirklichkeit: Aus der Nicht-Anerkennung von Lebensleistungen aus dem Unverständnis für persönliche Traumata und familiäre Verwerfungen boten sich vielfältige Spielräume für Frust und Verbitterung. Davor war auch Hans Saigies nicht gefeit. Seine durch Nationalitätenkonflikt und Weltkriegsteilnahme aus den Fugen geratene Welt kam auch nach Kriegsende noch lange nicht zur Ruhe, und als die Schule in Jägerslust 1965 geschlossen und Hans Saigies an die Volksschule Süsel versetzt wurde, setzte sich die Kette von Demütigungen für diesen fort. Anders als erhofft wurde Saigies nämlich 1969 nicht zum Rektor der neuen Dorfgemeinschaftsschule in Süsel ernannt, sondern statt dessen nach Scharbeutz versetzt, wo er – seit 1973 im vorzeitigen Ruhestand – 1979 verstarb und in Vergessenheit geriet. Vor diesem Hintergrund lässt Karsten Dölger seinem Protagonisten auch ein Stück historische Gerechtigkeit widerfahren, indem er – soweit fassbar – seine Lebensgeschichte rekonstruiert.

Nun bietet das vorliegende Buch weit mehr als die Beschäftigung mit dem persönlichen Schicksal eines Flüchtlingslehrers. Eingebettet in übergeordnete Zusammenhänge wird man dazu angeregt, über das Mit- und Gegeneinander in national, ethnisch und konfessionell heterogenen Regionen nachzudenken, man wird Zeuge, wie nationale Konflikte völkisch überfrachtet werden und zu Gewaltexzessen führen, wie diese selbst wiederum politische Wirksamkeit entfalten bzw. von extremen politischen Kräften instrumentalisiert werden. Das schwierige Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung, die Lebenswirklichkeit von Verdrängung und Exil, das Flüchten und die Schwierigkeit des Ankommens, umgekehrt die Verweigerung einer aus der Rückschau großzügig gewährten Willkommenskultur – kommen einem bei der Auseinandersetzung mit der von Karsten Dölger gebotenen Darstellung von Hans Saigies ́ Schicksal immer wieder in den Sinn. Welche Ideen, Hoffnungen, aber auch Enttäuschungen bringen Flüchtlinge in die Zielregion ihrer Flucht mit? Welche längerfristigen Folgen hat das für die aufnehmenden Gesellschaften, für ihr Selbstbild und für das Miteinander im Alltag? Hierüber wäre nun in der Tat – gerade aus heutiger Perspektive – sehr viel weiter nachzudenken – und dazu regt die vorliegende Veröffentlichung, ohne dass dies expressis verbis herausgestrichen würde, nachdrücklich an. 

Der Vorschlag, den Preis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte in diesem Jahr an Karsten Dölger zu verleihen, hat uns auch noch einmal auf die Kriterien schauen lassen, die für eine Preiswürdigkeit zugrunde gelegt werden. Wörtlich ist dort von einer besonderen Leistung auf dem Gebiet der Erforschung der schleswig-holsteinischen Geschichte oder ihrer Vermittlung die Rede. Für den diesjährigen Preisträger sind beide Herausforderungen untrennbar miteinander verbunden. Leben, Arbeiten, Forschen und Vermitteln sind ihm eins. Er ist stets ein ebenso begeisternder wie selbst begeisterter Lehrer und ein begnadeter Forscher gewesen; in diesem Sinne merkt man auch jeder seiner zahlreichen Veröffentlichungen das didaktische Vermittlungsinteresse an, und wer schon einmal das Glück hatte, an einer seiner Unterrichtsstunden teilzunehmen oder einem seiner Vorträge zu lauschen, der weiß, dass ihm das entdeckende Lernen, das aus einem authentischen Interesse sich speisende Forschen und die durch dieses angestoßenen Denkprozesse besonders am Herzen liegen – Geschichte als Denkfach! Der Unterricht als Erprobungsstätte kritischen Bewusstseins!

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Vor dem Hintergrund des vorausgehend kaum mehr als Angedeuteten hat sich das Preiskomitee dazu – einstimmig und ohne auch nur einen Moment zu zögern – dazu entschieden, den Preis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 2023 an Herrn Dr. Karsten Dölger zu verleihen. Wir tun dies angeregt durch sein neues Buch über „Kurenwimpel und Schulbaracke“ in Anerkennung seiner bisherigen Leistungen bei der Erforschung u n d Vermittlung der Geschichte unseres Landes. Auf das andere ihm nacheifern und sich von ihm inspirieren lassen mögen! – Vielen Dank. 

Detlev Kraack (020923*)

Das Buch “ „Kurenwimpel und Schulbaracke – Der memelländische Flüchtlingslehrer Hans Seigies –  – an den holsteinischen Lagerschulen Groß Nordsee und Jägerslust“ von Karsten Dölger, Plön, ist 2022 im Eigenverlag  erschienen, hat 147 Seiten, kostet 22 € und kann unter der ISBN 9783000726644 bestellt werden.