Jens Peter Jessen (1895–1944)
Jens Peter Jessen (1895–1944)

Auf dem Friedhof in Tingleff gleich nördlich der Grenze erinnert auf dem Familiengrab der Familie ein Gedenkstein an Jens Peter Jessen. 1895 im noch deutschen  Nordschleswig geboren machte er als Wirtschaftswissenschaftler Karriere. Früh hatte Jessen zum  Nationalsozialismus gefunden. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg jedoch überkamen ihn Zweifel und er ging nicht nur innerlich auf Distanz: Jessen schloss sich dem Widerstand an und spielte eine zentrale Rolle beim gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Am 30. November 1944 wurde er in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

Frontgeneration

Jens Jessen war ein typischer Vertreter der Frontgeneration des Ersten Weltkriegs. Er wurde am 11. Dezember 1895 auf dem Hof Stoltelund bei Tingleff geboren. Nach dem Abitur am Alten Gymnasium in  Flensburg meldete er sich in den ersten Kriegstagen freiwillig an die Front. Nach mehreren Verwundungen nahm Jens Jessen 1917 in  Kiel ein Volkswirtschafts- und Jurastudium auf und wurde in beiden Fächern promoviert. Seine nordschleswigsche Heimat war bei der Volksabstimmung von 1920 zu Dänemark gekommen. Abgesehen von einem Aufenthalt als Mitarbeiter einer deutschen Firma in Dänemark und in Südamerika sollte sich seine weitere Karriere in Deutschland entwickeln. Am Ende der 1920er Jahre habilitierte er sich in Göttingen für das Fach Finanzwissenschaften.

Professor und Nationalsozialist

Um 1930 trat Jens Jessen in die NSDAP ein und folgte im Rahmen der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Universitäten dem renommierten Wirtschaftswissenschafter Bernhard Harms (*1876-1939†) als Direktor des Kieler  Instituts für Weltwirtschaft nach. Im Jahr darauf wurde er allerdings schon an die Universität Marburg „strafversetzt“. Er hatte die Korruption in der NSDAP kritisiert. Jedoch schon 1935 erfolgte die Berufung auf einen Lehrstuhl nach Berlin. Hier sollte Jens Jessen später den Zugang zu Kreisen des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus finden. Jens Jessen hatte sich dem Nationalsozialismus angeschlossen, weil der seiner konservativen und antikommunistischen Haltung zu entsprechen schien. Er gehörte damit zweifellos zu jenen Wissenschaftlern in Deutschland, die 1933 den Machtantritt Hitlers begrüßten. Wie andere national gesonnene Professoren, Politiker, Industrielle, Kirchenvertreter und Literaten unterstützte Jens Jessen das nationalsozialistische Regime zwischen Beifall und Unbehagen, wobei zu Beginn der Beifall überwog.

Erste Zweifel an der Partei

Es waren dann vor allem die Missstände in der NSDAP, welche Jens Jessen abstießen und ihn in Konflikt mit der Partei brachten. Doch schon 1935 scheint dieser Konflikt seitens der Partei vergessen gewesen zu sein, denn Jens Jessen wurde zum Professor für Nationalökonomie an der Wirtschaftshochschule Berlin und im Jahr darauf zum Direktor des Staatswissenschaftlich-Statistischen Seminars der Berliner Universität berufen. In Berlin kam Jessen schließlich in Kontakt zu Leuten, die später den Widerstand trugen. Es waren Kreise der bürgerlichen Mitte bis zur konservativen Rechten – vor allem die elitäre „Mittwochsgesellschaft“ von 1863. Zu deren führenden Köpfen, denen Jens Jessen auch wissenschaftlich nahe stand, gehörte Johannes Popitz (2. Dezember 1884 – hingerichtet 2. Februar 1945). Er war unter den Trägern des Widerstandes vom 20. Juli als preußischer Finanzminister der einzige amtierende Minister. Ebenfalls zu dem Kreis gehörte General Ludwig Beck (29. Juni 1880 – zum Selbstmord gezwungen 20. Juli 1944). Er sollte nach dem Attentat Staatsoberhaupt werden. Als wichtigster Außenpolitiker des Widerstandes galt Ulrich von Hassell (12. November 1881 – hingerichtet 8. September 1944).

Ein zentraler Posten

1942 wurde Jens Jessen als Hauptmann der Reserve Leiter der Passierscheinhauptstelle beim Generalquartiermeister des Heeres in der Bendlerstraße in Berlin. Damit gelangte er in eine wichtige Position. Sie ermöglichte es ihm, ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den Offizieren des Widerstandes an der Front und den zivilen Widerstandsgruppen in Berlin zu werden. In seiner Dienststelle arbeiteten auch führende Mitglieder des militärischen Widerstandes der jüngeren Generation. Das war einmal etwa Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld (21. 12.1902 – hingerichtet 8. September 1944).Dazu gehörte auch Werner von Haeften (9.10.1908*). Er wurde im Herbst 1943 Ordonanzoffizier von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (15.11.1907*). Beide wurden schon einen Tag nach dem gescheiterten Attentat in der „Wolfschanze“ am 21.Juli 1944 hingerichtet.

„Nordmann“ hat einen Plan …

Die Witwe Ulrich von Hassells berichtete nach dem Krieg, dass es „Nordmann“, so der Deckname für Jens Jessen, war, der den Attentatsplan bereits 1943 skizziert hatte: „An diesem Abend sagte Jessen verzweifelt: `Es wäre in der Theorie so einfach, diesen Verbrecher zu beseitigen: Der vortragende Offizier bringt eine Mappe mit herein, die Sprengstoffladung enthält, legt die Mappe auf den Schreibtisch von Hitler, lässt sich zu einem verabredeten Telefonanruf herausholen, und Hitler ist beseitigt!’“ Wie auch Beck, Popitz und Goerdeler war Jens Jessen als Angehöriger der traditionellen Elite von einer konservativen und autoritären Staatsvorstellung geprägt. Jens Jessens Verdienst war es allerdings, dass er vermittelnd zwischen den Vertretern dieser konservativen Richtung und den jungen Offizieren, Beamten und Diplomaten des Widerstandes, die sich auf dem schlesischen Gut Kreisau von Helmuth James Graf von Moltke (11. März 1907 – hingerichtet 23. Januar 1945) zusammengefunden hatten, tätig wurde. Das zeigte sich ganz klar in der Frage des Staatsoberhauptes, bei der vom Kreis um Beck-Goerdeler-von Hassel der Hohenzollern-Kronprinz vorgeschlagen wurde, was Moltke, Peter Graf York von Wartenburg (13. November 1904 – hingerichtet 8. August 1944), Adam von Trott zu Solz (9. August 1909 – hingerichtet 26. August 1944) und Eugen Gerstenmaier (1906-1986) ablehnten.

… der am 20. Juli scheitert

Doch blieben alle Modelle für ein Deutschland, das sich aus eigener Kraft von Hitler und dem Nationalsozialismus befreien konnte, Theorie. Das Attentat am 20. Juli 1944 scheiterte. Noch am Vorabend hatte Stauffenberg Jens Jessen besucht, der nach einem schweren Autounfall im Frühjahr an den konkreten Aktionen nicht beteiligt war. Er wurde deshalb auch erst spät verhaftet, nachdem eine Liste, die auch seinen Namen enthielt, bei einer Durchsuchung gefunden worden war. So unterschiedlich auch die Gründe zum Widerstand gegen Hitler und die nationalsozialistische Herrschaft gewesen sein mögen – von rechts bis links – einig war man sich darin, dieses Regime beseitigen zu müssen um ein anderes Deutschland aufzubauen. Dafür bereitete man gemeinsam das Attentat vom 20. Juli vor. Die meisten der Verschworenen des engeren Kreises wurden noch am Tag des Scheitern oder wenige Wochen und Monate danach Opfer der grausamen Vergeltung des Regimes.

Jessen ein Demokrat?

Nur wenige Deutsche, die den Charakter des nationalsozialistischen Regimes erkannten, zogen daraus die Konsequenzen und stellten sich gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Jens Jessen gehörte zu dieser kleinen Gruppe, die bereit war, Widerstand zu leisten und diesen Mut mit dem Leben zu bezahlen. Die große Publizistin und Herausgeberin der „Zeit“ Marion Gräfin Dönhoff, die vielen der Verschworenen des 20. Juli 1944 nahe stand, schrieb einmal: „Die im Nachhinein vielfach gestellte Frage, ob die Verschwörer wirklich Demokraten waren, oder um den Fehler in der Frage noch deutlicher zu machen, ob sie bereits vor dem 20. Juli 1944 auf dem Boden der freiheitlich-rechtlichen Grundordnung des Bonner Grundgesetzes von 1949 standen, ist falsch gestellt. Entscheidend für das Handeln war zu diesem Zeitpunkt die Frage, ob man für oder gegen Hitler war, und daraus folgte die politische Entscheidung zur Überwindung des totalitären Staates. Als gemeinsames Ziel aller Beteiligten kann man ein Deutschland im Geist ethischer Gesinnung und moralischer Normen festhalten; innerhalb dieser Vorgabe waren mehrere Denkmuster möglich.“

Frank Lubowitz (TdM 1114/0721) 

Quellen: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 10, Berlin 1974, Duncker & Humblot; Ulrich von Hassell, Vom andern Deutschland: aus den nachgelassenen; Tagebüchern 1938–1944, Zürich, 1946,  Atlantis-Verlag; Ralph Uhlig (Hrsg.), Vertriebene Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nach 1933. (Kieler Werkstücke Reihe A, Bd. 2) Frankfurt, 1991, Lang; Peter Steinbach / Johannes Tuchel, Lexikon des Widerstandes 1933-1945, München,1994, Beck; Schlüter-Ahrens, Regina, Der Volkswirt Jens Jessen. Leben und Werk. (Beiträge zur Geschichte der deutschsprachigen Ökonomie, 16) Marburg, 2001, Metropolis-Verlag

Bildquellen: Familienalbum der Familie Jessen (commons.wikimedia.org)