Die kleine Landgemeinde Pöppendorf an der Bahnlinie von Lübeck nach Travemünde beherbergte nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein Auffang- und Durchgangslager erst für Wehrmachtsangehörige, dann für Flüchtlinge und Vertriebene. 1947 schließlich wurde Pöppendorf dann weltweit bekannt. Die britischen Besatzer hatten das Schiff „Exodus 1947“ vor Haifa geentert und die 4.300 jüdischen Kinder, Frauen und Männer, die nach Palästina einreisen wollten, zurück nach Europa gebracht. Ihre Odyssee endete schließlich im Lager bei Lübeck, wo die Befreiten aus den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten wieder hinter Stacheldraht eingesperrt wurden. Ihr Schicksal empörte und wirkte so auf die internationale Diskussion, die im Ergebnis zum Ende des Mandates von Großbritannien über Palästina und zur Gründung des Staates Israel am 18. Mai 1948 führte. Was in Pöppendorf passierte ist lange verdrängt worden.
Start der Irrfahrt in Frankreich
Das Grauen der Nazizeit war vorbei. Nun wollten viele Juden weg aus Europa, eine neue Zukunft in Palästina wagen, mit an einem Staat Israel bauen. 4.515 von ihnen, darunter über 1.000 Kinder trafen sich in Südfrankreich im Hafen von Sète. An der Pier lag die 1928 in den USA gebaute „President Warfield“, ein Vergnügungsdampfer für 400 Passagiere. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war es zum Abwracken in Baltimore bestimmt. Die paramilitärische zionistische „Haganah“ kaufte das Schiff für 60.000 Dollar. Als ehemaliger Flussdampfer mit nur 2,40 Meter Tiefgang schien die „Warfield“ gut als Blockadebrecher geeignet, weil ihr keine Seeschiffe in die flachen Küstengewässer von Palästina folgen konnten. Allerdings havarierte das Schiff Mitte Februar 1947 auf der Überfahrt in einem Sturm und musste zur Reparatur in den britischen Hafen Norfolk geschleppt werden. Dort wurde der britische Geheimdienst auf das unter honduranischer Flagge fahrende Schiff aufmerksam. Die Briten ließen das Schiff nun nicht mehr aus den Augen. Am 20. April 1947 erreichte der Dampfer Marseille. Nun ging es von Hafen zu Hafen in einer Art Katz-und-Maus-Spiel. Die „President Warfield“ schaffte es schließlich am 9. Juli 1947 in den Hafen von Sète. Dort konnten sich innerhalb von zwei Tagen per Lastwagen Juden aus mehreren französischen Lagern einschiffen. Mit 1.182 Frauen, 1.600 Männern und 1.672 Kindern ging es am 11. Juli 1947 in Richtung Palästina.

Aus der „Warfield“ wird die „Exodus 1947“
Das völlig überfüllte Schiff wurde in einer feierlichen Zeremonie am 17. Juli 1947 auf hoher See in „Exodus 1947“ umgetauft und die zionistische Flagge mit dem Davidstern gehisst. Das geschah unter Beobachtung der Royal Navy. Diese griff die „Exodus 1947“ in derselben Nacht an. Die Passagiere wehrten sich heftig, warfen unter anderem mit Kartoffeln. Die Briten setzten sich jedoch durch. Einen Tag später lief die „Exodus“ unter britischem Geleit und noch mit dem Davidstern am Heck in den Hafen von Haifa ein. Auf der Pier standen Tausende von Menschen. Reporter sind vor Ort, Kameras surren und von Bord der „Exodus“ sowie im Hafen von Haifa erklang die haTikwa, die jüdische Freiheitshymne. Doch die 4.554 Menschen dürfen nicht an Land. Sie werden von der „Exodus“ auf drei von den Briten für Gefangene umgebaute Frachtschiffe umgeladen. Am gleichen Tag sind sie wieder auf See.
Irrfahrt ins Land der Peiniger
Plan der Briten war, die Menschen von der „Exodus“ zurück nach Frankreich zu bringen. Dort angekommen weigerten sie sich jedoch, von Bord zu gehen. Als die Briten dies mit Gewalt bewirken wollten, legten die Franzosen ihr Veto ein. Sie boten den Menschen auf der „Exodus“ Asyl an, doch diese weigerten sich. Nur 130 Alte und Kranke stiegen in Frankreich aus. Im Communiqué 127 dokumentierten die Briten ihre brisante Entscheidung, die Schiffe nun in die britische Zone nach Deutschland zu schicken. Der Grund: „Dies ist das einzige Territorium unter britischer Jurisdiktion außerhalb Cyperns und Palästinas, in dem eine große Anzahl von Menschen ohne aufwendige zeitliche Vorbereitungen angemessen untergebracht und verpflegt werden kann.“ Am 22. August 1947 legten die Schiffe ab. Während eines Stopps in Gibraltar wartete der Konvoi, bis das britische Kabinett sich auf Grund des großen öffentlichen Drucks nochmals mit dem Schicksal der Exodus-Flüchtlinge beschäftigte. Ohne Ergebnis. Am 30. August setzte der Konvoi seine Fahrt fort. Am 8. September traf das erste Schiff mit Flüchtlingen am Pier 29 in Hamburg ein. Die Briten setzen eine Frist zum Verlassen des Schiffs, darauf gingen Familien mit Kindern und Alte von Bord. Um 9.15 Uhr stürmte die Militärpolizei das Schiff. Die Exodus-Passagiere wurden in vergitterte Züge gesperrt und Richtung Lübeck auf den Weg gebracht. Die Aktion führte nicht nur weltweit zum Prostest jüdischer Organisationen auch die internationale Presse empörte sich. Trotzdem wurde mit den beiden weiteren Schiffe ebenso verfahren.
Rückkehr ins Lager

Am Abend des 9. September 1947 waren 4.319 Exodus-Passagiere in den beiden Lagern „Pöppendorf“ und „Am Stau“ untergebracht. Ihr Widerstand war gebrochen. Vom abgesperrten Bahnhof Lübeck-Kücknitz hatten Militärlaster sie in die neu mit hohen Stacheldrahtverhauen gesicherten Lager gebracht. Die Vorarbeiten hatten bereits im August begonnen. In „Pöppendorf“ waren bis dahin vor allem zurückkehrende deutsche Kriegsgefangene, dann Flüchtlinge und schließlich Vertriebene durchgeschleust worden. „Am Stau“ war nach Kriegsende vor allem für polnische Displaced Persons (DPs) genutzt worden. Britische Pioniere und jugoslawische DPs hatten rund um die Lager zwei Meter hohe und vier Meter breite Stacheldrahtverhaue gezogen, Wachtürme mit Scheinwerfern wurde aufgestellt. Die Lager waren für die Ankunft der Exodus-Passagiere geräumt worden. Um alle beherbergen zu können, wurden 125 Zelte aufgestellt. Nachdem die Flüchtlinge die Nissenhütten und Zelte bezogen hatten, kam es zu einer Protestkundgebung. Sie verwahrten sich dagegen „in einem vom Militär bewachten KZ-ähnlichen Lager“ eingesperrt zu werden.
Widerstand und Flucht durch Bolek

Benjamin Gruszka (*1925-2020†) war ein Überlebender des Warschauer Ghettos. 1947 22 Jahre alt hatte er sich als DP getarnt in Lübeck für die „Haganah“ darum gekümmert, dass Juden aus der britischen Besatzungszone nach Palästina flüchten konnten. Er wurde Bolek genannt. Bolek ließ sich von den Briten als Dolmetscher für die beiden Lager einstellen. Als die Briten die Flüchtlinge aufforderten, Namen und Herkunftsort anzugeben, wies Bolek die Internierten an, nicht die Wahrheit anzugeben. Und so ließen sie sich unter Fantasienahmen eintragen. Es gelang ihm immer wieder, kleine Gruppen aus den Lagern zu schleusen und sie auf die Schmuggelroute nach Palästina in Marsch zu setzen.

Alltag in den Lagern
Immer noch versuchten die Briten, die Insassen der beiden Lager korrekt zu registrieren. Ihr Köder war eine auf 2.800 Kalorien erhöhte Verpflegungsration. Bald mussten sie einsehen, dass der Versuch vergeblich war. Die Rationen wurden wieder auf 1.500 Kalorien gesenkt. Die Eingesperrten hatten inzwischen begonnen, ihr Leben zu organisieren. Die Kleinkinder wurden betreut, Schulunterricht organisiert und Englischkurse angeboten. Im Lager „Am Stau“ wurde eine eigene Lagerzeitung herausgegeben. Nachdem mit dem Abbau der Wachtürme begonnen worden war, verließ das britische Militär am 6. Oktober die Lager. Nun leitete ein jüdisches Komitee das Schicksal der Gestrandeten, unterstützt von einer jüdischen Lagerpolizei. Als der Winter kam, waren sowohl die Zelte als auch die Nissenhütten nicht winterfest. Noch einmal ging es auf die Reise. Im November wurden in Emden und Wilhelmshaven-Sengwarden neue Quartiere bezogen.

Weltweite Empörung
Der Umgang der Briten mit den Holocaust-Überlebenden rief weltweit Entrüstung hervor. Er lenkte aber auch die Aufmerksamkeit auf die Probleme der jüdischen Flüchtlinge. US-Präsident Harry S. Truman (*1884-1972†) machte die jüdischen Displaced Persons zum Thema der internationalen Politik. In New York demonstrierten Tausende gegen die harte Linie des Vereinigten Königreichs. Erst am 5. November 1947 wurden die Lager geöffnet. Das Schicksal der Exodus-Flüchtlinge beeinflusste wahrscheinlich die Abstimmung der Vereinten Nationen. Am 29. November 1947 stimmt eine Mehrheit in der UN der Teilung Palästinas zu. Am 14. Mai 1948 verließen die letzten Briten Palästina. Viele der Exodus-Flüchtlinge waren da schon auf dem Weg nach Israel. Die letzten 500 aus dem Übergangslager Bergen-Hohne bestiegen am 15. August 1948 den Zug nach Marseille, um erneut die Überfahrt nach Israel zu starten.
Im falschen Film
„Exodus“ steht bei vielen Menschen einmal für den 1958 erschienen Roman von Leon Uris und den 1960 danach mit Paul Newman gedrehten Spielfilm. Buch und Film nutzen das Schicksal der „Exodus“-Passagiere nur als Aufhänger. Darauf wies Wolfgang Muth in seinem Aufsatz hin, den der Historiker und Leiter des Industriemuseums Herrenwyk in Lübeck für den Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein schrieb (Akens) . Vor allem dieser Aufsatz wurde als Grundlage für das Stichwort auf www.geschichte-s-h.de genutzt.
-ju- (0925*)
Quellen: Wolfgang Muth, „Nach Lübeck statt ins Land der Hoffnung“. Die Passagiere der „Exodus 1947“ in den Lagern „Pöppendorf“ und „Am Stau“, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 50, 2008, S. 305-319; Irene Altenmüller, „‘Exodus 1947‘: Briten internieren Holocaust-Überlebende bei Lübeck, NDR-online, 09.09.2022, https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Exodus-1947-Briten-internieren-Holocaust-Ueberlebende-bei-Luebeck
Bildnachweise: Exodus: Israel Government Press Office; Protestmarsch/ Bolek: Stiftung Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum /jüdisches Museum Rendsburg; Auf dem Weg / Ankunft: LVR – Zentrum für Medien und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen