Karlotta Lorenzen strahlend mit den Nachwuchspreis, Laudator Frank Lubowitz (links), GSHG-Vorsitzender Friedrich Grantzau

Der Nachwuchspreis wird seit 2015 durch die Brunswiker Stiftung ermöglicht und ist inzwischen mit 2.000 € dotiert. Der Preis wurde im Rahmen des 5. „Tages der Schleswig-Holsteinischen Geschichte“ am 11. Oktober 2025 im Hohen Arsenal in Rendsburg vergeben an Karlotta Lorenzen für ihre Masterarbeit an der CAU  „Der ‚Kieler Behindertenplan“ (1981)‘ – Behindertengerechtes Kiel zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. Hier die leicht gekürzte Laudatio von Frank Lubowitz.

In diesem Jahr lagen sechs Arbeiten zur Bewertung vor, von denen drei für den Nachwuchspreis in die engere Auswahl gelangten. Mit einstimmigem Beschluss des Vorstandes der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte wurde der Preis Karlotta Lorenzen für ihre Arbeit „Der „Kieler Behindertenplan“ (1981) – Behindertengerechtes Kiel zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ zuerkannt. 

Karlotta Lorenzen betritt mit ihrer kritischen, sozialgeschichtlichen Untersuchung den jungen Wissenschaftsbereich der Disability History und beschreibt sehr differenziert, wie zwischen unterschiedlichen Gruppen Formen der „Enthinderung“ ausgehandelt werden mussten  und welche – vor allem finanzielle – Hürden bei der Umsetzung zu überwinden waren.  Die Arbeit sensibilisiert für das Thema eines behindertengerechten Lebensraumes, das mit dem Behindertenplan von 1981 bis heute noch längst nicht abgeschlossen ist.  

Die Studie ist als Masterarbeit im Frühjahr 2025 am Historischen Seminar der CAU bei Prof. Dr. Gabriele Lingelbach geschrieben worden. Sie beruht auf Akten des Kieler Kriegsopfer- und Behindertenausschusses und Beirats zwischen 1976 und 1994 und untersucht, welche Gruppen mit welchen Zielsetzungen an der Ausarbeitung des Kieler Behindertenplans beteiligt waren. 

In ihrer Einleitung stellt die Autorin das Problem der Barrierefreiheit für Menschen mit Einschränkungen als ein bis heute noch nicht gelöstes Problem dar, obgleich diese Fragestellung in Kiel schon im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts eingehend diskutiert wurde und im Behindertenplan von 1981 gipfelte. Sie bezeichnet den Behindertenplan als  Ausdruck veränderten gesellschaftlichen Denkens, fragt aber danach, wie ambitioniert er war, und wie er in die Tat umgesetzt wurde. 

Ausgangspunkt von Behindertenpolitik war in der Nachkriegszeit die Kriegsopferversorgung. Ein neues Verständnis von Behindertenpolitik entstand in der Bundesrepublik erst in den 1970er Jahren und war durch die Erweiterung des Adressatenkreises so zersplittert und unübersichtlich, wie kaum ein anderes Feld der Sozialpolitik, da es sich einerseits um eine Vielzahl von Lebensbereichen und somit unterschiedlichen Politikbereichen handelt. Auf der anderen Seite gab es die verschiedensten Träger des sozialen Sicherungssystems für die unterschiedlichen Formen der Beeinträchtigungen. 

Die Ausgestaltung von Behindertenpolitik, liegt dabei letztlich auf Landes- und vor allem Kommunalebene, weshalb der Kieler Behindertenplan von 1981 als Forschungsgegenstand relevant ist. 

Die Themenfelder des Behindertenplans umfassten etwa die Schaffung eines barrierefreien ÖPNV und die Förderung von Fahrdiensten als Zwischenlösung bis zur barrierefreien Umrüstung der Busse. Dabei stellt die Autorin fest, dass es insbesondere um eine Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer ging. So wurden zum Beispiel bei den Übergangslösungen durch Fahrdienste vornehmlich für Rollstuhlfahrer geschaffen, erblindete oder anders behinderten Menschen standen – aus Kostengründen – diese Lösungen nicht zur Verfügung. Auch bei der Frage der Absenkung von Bordsteinen an Überwegen zugunsten von Rollstuhlfahrer ergab sich ein Konflikt mit der Notwendigkeit, die Begrenzung von Fußweg und Fahrbahn für blinde Menschen deutlich zu machen. Die Absenkung, als „Enthinderung“ für Rollstuhlfahrer, behinderte somit sehbehinderte Menschen.

Ausgehend von der Frage, ob Menschen behindert sind oder vielmehr von der Gesellschaft behindert werden, stellt die Autorin in einem Zwischenfazit fest, dass der Behindertenplan von 1981 in vielen Punkten das Narrativ von besonderen Leistungen für die Behinderten und eines Hilfebedarfs (Sonderräume) fortgeschrieben hat und nicht grundsätzlich die Frage gestellt hat, wie Menschen mit Einschränkungen gleichberechtigt und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. 

Abschließend stellt die Autorin fest, dass die barrierefreie Stadtgestaltung durch den Kieler Behindertenplan von 1981 in der Kieler Kommunalpolitik verankert wurde, dass dies jedoch nicht zwangsläufig dazu führte, dass alle Barrieren abgebaut wurden, legen die Ergebnisse dieser Arbeit aber auch die Debatten über Barrierefreiheit in der Gegenwart nahe.

Die Arbeit von Frau Lorenzen betritt als eine erste für Kiel angefertigte Studie der „Disability History“ Neuland und kann auf breiter Quellengrundlage und sprachlich höchstem Niveau die Diskussion um ein barrierefreies Kiel und die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Einschränkungen deutlich machen. Dabei wird das Spannungsfeld deutlich, das zwischen der Schaffung von Sonderräumen und dem tatsächlichen Abbau von Behinderungen besteht, denn das Ziel kann nur im gesellschaftlichen  Miteinander von Menschen ohne und mit Einschränkungen bestehen.

Der Vorstand der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte sieht in dieser Arbeit eine hervorragende zeit- und sozialgeschichtliche  Studie, die wissenschaftliches Neuland betritt, und zeichnet Frau Karlotta Lorenzen mit dem Nachwuchspreis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte aus. Herzlichen Glückwunsch.

Foto: Porträt:privat; Preisverleihung Stefan Magnussen