Das schwerste Hochwasser an der Ostsee
In der Nacht von 12. auf den 13. November 1872 erlebte die Ostsee von Dänemark bis Pommern das schwerste bekannte Naturkatastrophe. Das auch „Oststeesturmhochwasser“ genannte Unwetterereignis erreichte Wasserstände von 3,30 Meter, tötete 271 Menschen, ließ mehr als 10.000 Haustiere ertrinken und zerstörte tausende Häuser und hunderte Schiffe. Auslöser war eine Folge von sich nacheinander verstärkenden Wettereffekten. Die 1872er Flut hat erstmals das Thema Küstenschutz für die Ostseeküsten auf die Tagesordnung gebracht. Verstärkt durch den Klimawandel gewinnt es heute zunehmend an Brisanz.
Eine Katastrophe schaukelt sich auf
Seit dem 1. November 1872 trieben westliche bis südwestliche Winde zum Teil mit Sturmstärke Wasser aus der Nordsee in die Ostsee. Diese Wetterlage dauerte ungewöhnlich lange. Weil der Wind in der Ostsee das Wasser in Richtung Finnland und Baltikum trieb, sanken in Dänemark und an der deutschen Ostseeküste die Wasserstände ungewöhnlich stark auf einen Meter unter Normalnull. Dadurch wurde wiederum noch mehr Wasser von der Nordsee durch das Skagerrak in die Ostsee gesaugt. Am Abend des 10. November herrschte plötzlich Windstille. Am elften November sprang der Wind auf Nordost um, und erreichte bald Orkanstärke. Nun wurden die in der östlichen Ostsee aufgestauten Wassermassen zurück nach Südwesten getrieben. Wie in einer Badewanne schwappte das Wasser zurück und schickte eine tödliche Flutwelle von über drei Metern Höhe in der Nacht von Dienstag den 12. auf Mittwoch den 13. November 1872 an die deutschen und dänischen Ostseeküsten.
Ein Bild der Verwüstung
Am schwersten betroffen wurden in Dänemark die Inseln Lolland und Falster. Dort liegen weite Gebiete unterhalb des Meeresspiegels. Die Deiche konnten sie nicht schützen. Insgesamt starben in Dänemark 99 Menschen. Nicht nur dort war die Sturmflutnacht laut und verregnet. Wer konnte, blieb im Haus. Deshalb wurden die Menschen überall an der Küste von der Flutwelle überrascht. Das galt für Mecklenburg-Vorpommern wo 32 Menschen durch die Fluten starben wie auch für Schleswig-Holstein.
Eckernförde trifft es am schlimmsten
An der deutschen Ostseeküste wurde Eckernförde am stärksten beschädigt. In der weiten und nach Nordosten offenen Bucht konnte die Flutwelle ungehindert auf die Stadt zurasen. Das Stadtgebiet wurde 3,76 Meter über Normalnull überflutet. 87 Häuser wurden komplett zerstört, 137 beschädigt, der Damm zwischen Windebyer Noor und Ostsee wurde zerstört und die Stadt war damit von der Außenwelt abgeschnitten. Wie durch ein Wunder forderte die Sturmflut in Eckernförde kein Menschenleben.
… weitere Schäden
In Flensburg ertrank ein Mann, doch die materiellen Schäden waren begrenzt. Schlimmer traf es die Anliegergemeinden an der Förde. Das galt auch für Kiel. Die Lage der Stadt am Ende der gewundenen Förde schützte sie. Laboe, Schönberg, Wendtorf, Stein und Strande dagegen wurden schwer getroffen, viele Häuser zerstört und drei Menschen kamen ums Leben. Fünf waren es auf Fehmarn, wo ein Drittel der Insel unter Wasser stand. Überall an der Ostseeküste wurden Häuser zerstört. Es kam bei Weißenhaus, an der Hohwachter Bucht, bei Dahme und in der Lübecker Bucht zu Deichbrüchen. Die Sperrwerke des Oldenburger Grabens wurden zerstört.
Die Hemmelsdorfer Förde
Die gewaltige Flutwelle drehte an einer Stelle sogar die Erdgeschichte zurück. Niendorf auf der flachen Nehrung zwischen der Lübecker Bucht und dem Hemmelsdorfer See wurde zwei Meter überschwemmt, vier Menschen ertranken in der Sturmnacht, 38 Familien wurden obdachlos. Und: Die Mündung des Flüsschens Aalbeek wurde von einer über drei Meter hohen Flutwelle überrollt. Die schuf einen hunderte Meter breiten Ausgang vom Hemmelsdorfer See zur Ostsee. Damit war 6.500 Jahre nach der letzten Eiszeit der See wieder zu einer Förde geworden (Eiszeitland). Nahezu kein Tier und keine Pflanze des Sees überlebten den massiven Eintrag von salzigem Ostseewasser. Es dauerte bis in die 1930er Jahre bis sich der Hemmelsdorfer See sich von dem Salzschock erholt hatte.
Mehr Küstenschutz an der Ostsee
Seit 1963 hat Schleswig-Holstein einen Generalplan Küstenschutz. Dieser beschäftigte sich lange schwerpunktmäßig mit der Westküste und dem Schutz gegen Sturmfluten an der Nordsee. Das ändert sich inzwischen stark im Zusammenhang mit den Folgen des Klimawandels. Bis 2024 will die Landesregierung für diese Küste eine „Klimaanpassungsstrategie“ erstellen . Auch zwischen der Lübecker Bucht und Flensburg sind durch den Klimawandel und durch damit verbundene Extremwetterlagen immer größere Abschnitte zu sichern. Mit den Förden ist die Ostseeküste Schleswig-Holsteins 530 Kilometer lang.
Die Flut kehrt zurück
In der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober 2023 kam es zum höchsten Ostseesturmhochwasser seit 1872. Am schlimmsten traf es Flensburg, wo das Wasser 2,27 Meter über Mittelwasser erreichte. Die Schäden entlang der Küste in den Städten, an den Ostseedeichen, den Ufern und durch zerstörte Sportboote belaufen sich nach ersten vorsichtigen Schätzungen auf einen dreistelligen Millionenbetrag.
Werner Junge (1122*/1023)
Literatur: Heinz Kiecksee, Die Ostsee-Sturmflut 1872, Heide, Boyens-Verlag 1972; Marcus Petersen/Hans Rohde, Sturmflut. Die großen Fluten an den Küsten Schleswig-Holsteins und in der Elbe, Dritte Auflage, 1981, Neumünster, Wachholtz-Verlag, ISBN 3-529-06163-8; Ortwin Pelc, Die Ostseesturmflut von 1872. Reaktionen und Folgen im Vergleich, in: Katastrophen in Norddeutschland, hg. von dems. (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 45), Neumünster, Wachholtz Verlag 2010, ISBN 978 3 529 02945 5, S. 175-211; Wikipedia
Bildnachweise: Vignette/Eckernförde: Allgemeine Familienzeitung Stuttgart 1873; Flensburg: Stadtarchiv Flensburg; Rettung: Illustrierte 1872; Hallenhaus aus Niendorf: Gemeindearchiv Timmendorf Strand.