Der „Pharisäer“ gilt als Nationalgetränk der einstigen nordfriesischen Insel und heutigen Halbinsel Nordstrand. Und nicht nur dort wird die lustige Pharisäer-Geschichte erzählt. Die ist verbürgt und lässt sich ziemlich präzise datieren und verorten. Mit der Geschichte sind jedoch zugleich tragische Schicksale verbunden, die auch Theodor Storm als Ermittler von Husum auf die Insel übersetzen ließen.
Die Geschichte
Das Geschehen im Elisabeth-Sophien-Koog ist durch bekannte Heimatforscher wie Andreas Busch (*1883-1972†) überliefert. Der Pfarrer der altkatholischen Gemeinde auf Nordstrand und Insel-Chronist Karl Kuenz (*1901–1978†) erzählt die Geschichte etwa so: Unter den Gästen, die ein reicher Bauer zu einer Kindstaufe eingeladen hatte, saß auch der Pastor. Man trank Kaffee und aß Kuchen. Der Seelenhirt sah es nicht gerne, wenn Alkohol ausgeschenkt wurde, dem seine Insulaner gerne zusprachen und darin des Guten oft zu viel taten. Dem Pastor fiel nun nach einer Weile auf, dass die Gäste schon bald in eine fröhliche Stimmung gerieten. Woher mochte das kommen?
„Ihr Pharisäer!“
Um doch nicht auf den belebenden Branntwein verzichten zu müssen, aber so, dass der Pastor keinen Anstoß nehmen konnte, hatte der Hausherr angeordnet, in der Küche zu dem gesüßten schwarzen Kaffee in jede Tasse etwas aus der Rumflasche zu gießen. Damit man nichts vom Alkohol rieche, sollte eine dicke Schicht Rahm darüber getan werden. Aber nur für Gäste! Der Herr Pastor bekam seinen Kaffee „ohne“. Doch dann wurde ihm aus Versehen eine „falsche“ Tasse hingestellt. Er kostete, begriff die Zusammenhänge, blickte in die Runde und sagte, halb wohl im Ernst und halb mit Humor: „Ihr Pharisäer!“ Seitdem heißt das Getränk nach den Schriftgelehrten und Predigern, denen vor allem im Neuen Testament unterstellt wird, sie seien selbstgerecht und heuchlerisch.
Eine wahre Geschichte
Weil sich die Geschichte tatsächlich so oder wenigstens ganz ähnlich zugetragen hat, lässt sie sich präzise lokalisieren. Sie ereignete sich auf dem Hof von Peter Georg Johannsen (*1828–1903†) im Elisabeth-Sophien-Koog auf Nordstrand. Das genaue Datum der historischen Tauffeier ist strittig. Busch grenzt den Zeitraum ein. Es müsse zwischen 1864 und 1874 gewesen sein. Präzise will es der Nordstrander Chronist Karl-Ludwig Petersen wissen: Er datiert das Ereignis auf den 12. Oktober 1873, als das zwölfte Kind, Helene Petrea Johannsen, getauft wurde. Andere nennen den 2. April 1872, den Tauftag der Tochter Johanna..
Das Rezept
Das „Originalrezept“ für „Pharisäer“ hat Andreas Busch überliefert: Man füllt die Kaffeetasse gut halbvoll mit gutem Kaffee, tut zwei bis drei Stückchen Zucker hinein, die man gleich durch Umrühren aufgehen lässt, und gibt dann ein Gläschen voll Rum hinzu – ein Eierbecher gilt als das passende Maß. Auf den so entstandenen Kaffeepunsch wird dann sorgfältig mit einem Löffel gipsdeckenartig eine Schicht Sahne obendrauf getan.
Traurige Helden
Beide Hauptakteure der „Pharisäer“-Geschichte endeten tragisch. Der wohlhabende und auf der Insel angesehene Bauer Peter Georg Johannsen verfiel wie so mancher Hofbesitzer in den reichen Marschen der Trunksucht. Er konnte seinen Bauernhof nicht mehr führen und wurde entmündigt. Der übermäßige Alkoholgenuss war vielerorts in Nordfriesland ein Problem. Für die Insel ist überliefert: „Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd – auf Nordstrand ist es umgekehrt.“
Pastor Adolf Georg Bleyer (*1823–1880†), der den Namen des Getränks prägte, kam 1864 nach Nordstrand. Drei Jahre später verging sich der noch ledige Geistliche an seinem 17-jährigen Dienstmädchen. Kirche und Staat ermittelten. Bleyer leugnete und veranlasste das Mädchen zu einem Widerruf, den sie, so die Magd, „wider besseres Wissen“ unterschrieben habe. Nach einem „ernstlichen Verweis“ durch die Kirche durfte Bleyer weiter Pastor auf Nordstrand bleiben. Auch wenn die Dienstmädchengeschichte sicher noch lange Gesprächsstoff auf der Insel war, blieb der Geistliche beliebt – aber nicht glücklich. Am 27. Juni 1880 erschoss er sich kurz vor dem Sonntagsgottesdienst im Alter von 57 Jahren. Der Landschaftsarzt gab an, der Pastor habe seit längerem an „Gehirnerweichung und infolgedessen an Verfolgungswahn“ gelitten.
Theodor Storm ermittelt
Theodor Storm (*1817–1888†) musste 1867 in seiner Funktion als Amtsrichter von Husum auf die Insel übersetzen, um gegen Bleyer zu ermitteln. Storm schrieb dazu seinem Dichterkollegen Theodor Fontane (*1819-1898†): „Morgen soll ich nach einer unserer Inseln, um gegen den dortigen Pastor, der – so scheint es – erst sein kleines Dienstmädchen verführt und sie dann, da sie die Geschichte offenbart, nicht zur Beichte hat lassen wollen, die Disciplinaruntersuchung zu führen.“ Die Angelegenheit gebe, so schrieb er nach viertägigen Ermittlungen seinem Sohn Hans, „allerlei psychologische Räthsel“ auf.
Prof. Dr. Thomas Steensen (0422*)
Quellen/Literatur: Jule Bleyer: Die ganze Wahrheit über den Pharisäer von Nordstrand. In: Hamburger Abendblatt, 2. Januar 2016; Andreas Busch: Was ist mit dem „Pharisäer“? In: Die Heimat, Jahrgang 1953, S. 256–258; Karl Kuenz: Nordstrand nach 1634. Die wiedereingedeichte nordfriesische Insel, Singen am Hohentwiel 1978; Karl Ernst Laage: Theodor Storm als Untersuchungsrichter auf Nordstrand (nach bisher unveröffentlichten Akten). In: Theodor Storm. Neue Dokumente, neue Perspektiven, Berlin 2007, S. 63–72.; Karl-Ludwig Petersen: 240 Jahre Elisabeth-Sophien-Koog, Husum 2013; Thomas Steensen: Die Trunksucht als soziales Problem. Der Kampf gegen den Alkohol. In: Nordfriesland – von einst bis jetzt, Husum 2022, S. 252–257; Thomas Steensen: „Ihr Pharisäer!“ Das Nordstrander Getränk trat vor anderthalb Jahrhunderten seinen Siegeszug an – doch die Geschichte hat auch Schattenseiten. In: Husumer Nachrichten, 29. März 2022.
Abbildungen: Pharisäerhof: Thomas Steensen; Porträt Bleyer: ev.-luth. Kirchengemeinde Odenbüll, Nordstrand; Porträt Peter Georg Johannsen: Karl-Ludwig Petersen; Porträt Storm: Storm-Archiv, Husum.