Schleswig-Holstein kommt im Kaiserreich an
Seit 1867 waren die Herzogtümer Schleswig und Holstein, nun durch einen Bindestrich geeint, preußische Provinz. Die Preußen reformierten Verwaltung und Staatsaufbau. Die kleinteiligen und zum Teil konkurrierenden Strukturen aus der Zeit des Dänischen Gesamtstaates wurden aufgelöst und 21 einheitliche Landkreise entstanden. Verwaltung und Rechtsprechung wurden getrennt, ein Provinziallandtag mit zumindest beratender Funktion etabliert. Mit dem 1900 für das Deutsche Reich eingeführten Bürgerlichen Gesetzbuch wurde auch das bis dahin übliche Nebeneinander verschiedener Rechtsnormen beendet. Die Grenzziehung im Norden von 1864 sorgte für Konflikte mit der dänischsprachigen Bevölkerung. Die Industrialisierung hatte nun das flache Land erreicht und das Leben der Menschen grundlegend verändert.
Neue Städte und neue Mobilität
In nur hundert Jahren hatte sich die Bevölkerung mehr als verdoppelt, 1,39 Millionen Menschen lebten nun in der Provinz. Seit den 1870er Jahren wuchsen die alten Städte über ihre Stadtmauern hinaus. Aus den bis dahin Flecken genannten Marktorten wurden Städte. Wasser kam über Leitungen ins Haus, Abwässer flossen in Schwemmkanalisationen, Gas und Strom erhellten die Stuben, Straßenbahnen und Fahrräder sorgten in den Städten für eine neue Mobilität.
Symbol der Zeit war die Eisenbahn. Neben dem großen System der Normalspurbahn entstanden, vor allem von den Kreisen getragen, über 1.000 Kilometer Strecken für Kleinbahnen. Sie erschlossen vor allem das flache Land. Damit waren auch verderbliche Agrarprodukte transportierbar : Butter aus Angeln oder (auch dank neuer Konservierungsstoffe) Krabben aus Büsum konnten nun gewinnbringend in die Zentren im Süden exportiert werden. Industrialisierung und Verkehrsrevolution führten zusammen dazu, dass sich die bis dahin regionalen Märkte auflösten. Produktion und Konsum wurden in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß entkoppelt.
Heimatvereine und Baupflege
Bei aller, vor allem im Bürgertum herrschenden Euphorie, machten die gewaltigen Umbrüche auch Angst. In einem bis dahin unvorstellbaren Tempo verschwanden kulturelle und handwerkliche Traditionen. Damit gerieten regionale Eigenheiten in Gefahr. Um sie in die Industriezeit zu retten, gründeten sich nun Heimatvereine. Das handwerkliche Erbe der Vorindustriezeit zu erhalten war auch der entscheidende Impuls, um Museen in Meldorf (Landesmuseum, 1872), Flensburg (1876), Kiel (Thaulow-Museum,1878) und in Altona (1901) zu gründen.
Von 1900 an wuchs auch der Wunsch, die landschaftstypische Baukultur an die Ansprüche der neuen Zeit angepasst zu erhalten. Daraus entstand die Heimatschutzarchitektur. Sie ging im Norden vor allem von dem Tonderaner Landrat Friedrich Rogge (1867*1932†) aus. Wie die neuen Museen war auch die Baupflege eine Reaktion auf Entkoppelung von Produktion und Konsum. Spezifisch regionale Materialien wie Backsteine, Tonpfannen und Reet sollten in der Landschaft erhalten bleiben. Längst wurden jedoch schon im großen Stil Wellblech und Teerpappe auf dem Land genutzt. Die Fassaden der Gründerzeithäuser waren in Flensburg und Kiel dieselben wie in Hamburg und Stuttgart. Sie alle schmückten dieselben Stuckelemente, die im ganzen Reich per Katalog bestellt wurden.
Das Ende der Massenauswanderung
Am Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die starke Bevölkerungszunahme, Armut, wirtschaftliche Krisen, Arbeitslosigkeit, aber auch der Anschluss an Preußen mit seinem dreijährigen Wehrdienst sowie mangelnde Hoffnung für die Zukunft die Menschen zur Auswanderung bewogen. Insgesamt wanderten von 1871 bis 1914 mehr als 140.000 Menschen aus Schleswig-Holstein aus. Um 1900 war die Zahl der jährlichen Auswanderer aber bereits im Rückgang. Gründe dafür waren eine Wirtschaftskrise in den USA seit 1893 und eine bessere wirtschaftliche Situation in Schleswig-Holstein. In der sogenannten „Gründerzeit“ breitete sich im neuen Kaiserreich nun ein fast euphorischer Fortschrittglaube aus. Überall entstanden neue Fabriken und schufen neue Arbeit für die wachsende Bevölkerung.
Der Aufstieg der Arbeiterklasse
Im Zuge der Industrialisierung entstand als neue Gesellschaftsschicht die Arbeiterklasse. Sie organisierte sich politisch in den sozialdemokratischen Ortsvereinen. Deren Ziel war es, die Interessen der Arbeiter und ihren Wunsch nach Gleichberechtigung zu vertreten. Die Sozialdemokratische Partei (SPD) wurde besonders nach dem Ende der Sozialistengesetze im Jahr 1890 immer stärker. Ihre Schwerpunkte hatte sie vor allem in Industriestädten wie Kiel oder Neumünster. Die Arbeiterbewegung unterstützte alle Lebensbereiche: Über Gewerkschaften, Freizeit, Einkaufsgenossenschaften und Zeitungen bis hin zu Sterbekassen. Auch Frauen engagierten sich und nahmen höhere Positionen ein.
Um 1850 wurden in Industrie und Gewerbe an sechs Tagen in der Woche noch bis zu 14 Stunden gearbeitet. Das ruinierte die Gesundheit der Arbeiter. Es gelang, die Arbeitszeit bis 1910 auf neun Stunden zu senken. Auch Kinderarbeit wurde verboten.
Für Arbeiter und Angestellte waren keine Urlaubstage festgelegt. Beamten standen dagegen in den 1890er Jahren meist zehn Urlaubstage zu. Die knappe Freizeit nutzten die Menschen für Erholung, Familienleben und im Verein. Besonders beliebt waren Sport- und Gesangsvereine. Auch der Tourismus entwickelte sich. Ausflüge in die beliebten Urlaubsregionen wie die Holsteinische Schweiz oder Ratzeburg waren für die Arbeiter aber zu teuer. Stattdessen gab es Sonntagsspaziergänge und „Kaffeeklatsch“ im näheren Umfeld des Wohnortes.
Privat und Arbeit werden getrennt
Bisher hatten Handwerker und Kaufleute häufig in Ein- bis Zweizimmerwohnungen gleich neben ihrem Arbeitsplatz gewohnt. Nun setzte sich bei ihnen der Trend durch, den beruflichen und privaten Raum zu trennen. Sie zogen in Mietstockwerkhäuser mit Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. Die Werkstätten und Lagerräume befanden sich in den Innenhöfen und die Geschäftsräume im Erdgeschoss. Auch auf dem Land wurde in den Bauernhäusern zunehmend der Wohn- und Wirtschaftsbereich getrennt. Die Küche erhielt einen Herd, der an einen Schornstein angeschlossen war. Außerdem entstanden eigene Räume für Schlafzimmer, Waschküche, Keller und Speisekammer, in denen die Möbel beweglich und nicht mehr in die Wände eingebaut waren, wodurch das Wohnen hygienischer wurde. Wasser kam aus dem Brunnen, die Toilette befand sich im Wirtschaftsbereich.
Die ländliche Unterschicht bestand aus den Knechten und Mägden, die häufig nur einen Schlafplatz und eine Truhe für ihre Besitztümer hatten, und den Landarbeitern. Deren meist enge und zugige Häuser mit nur einer Stube wurden Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend ausgebaut oder neu errichtet. Die neuen Wohnungen bestanden nun aus einer Küche und zwei Zimmern.
Die Tischgemeinschaft löst sich auf
Genauso wie beim Wohnen wurde auch in der Familie nun der private Bereich zunehmend von dem der Arbeit getrennt. Daher wurde auch die Freizeit immer wichtiger. Auf dem Land löste sich die Hausgemeinschaft von Bauernfamilie und Gesinde zunehmend auf. Man aß nun nicht mehr gemeinsam am langen Tisch sondern getrennt.
Minderheiten in Schleswig-Holstein
Im Deutschen Kaiserreich waren regionale Identitäten nicht erwünscht: der Nationalstaat sollte nur eine Kultur und eine Sprache haben. Deshalb förderte der Staat nur die deutsche Kultur. In der Provinz Schleswig-Holstein waren aber auch dänischsprachige Schleswiger (Dänische Bewegung) zu preußischen Bürgern geworden. Seit 1871 gab es daher im mehrheitlich dänischsprachigen Nordschleswig deutschen Sprachunterricht und seit 1888 Deutsch als alleinige Unterrichtssprache. Dänisch wurde auf Versammlungen verboten. Die Dänischgesinnten gründeten darauf Vereine und bauten Versammlungshäuser, um ihre Kultur und Sprache zu fördern.
Obwohl die preußische Regierung nach sprachlicher Einheitlichkeit strebte, erhielten die Sylter Friesen 1909 für kurze Zeit die Erlaubnis, friesischen Sprachunterricht anzubieten. Die wurde jedoch schnell widerrufen. Entscheidender Grund war die Angst davor, dass nun auch andere Minderheiten Rechte für sich einfordern könnten.
Franziska Böhmer (1015)
Literatur: Andresen, Hans-Günther: Bauen in Backstein. Heide 1989.
Bohn, Robert: Geschichte Schleswig-Holsteins. München 2006. (Beck’sche Reihe 2615).
Diverse Beiträge in: Danker, Uwe/Schliesky, Utz (Hgg.): Schleswig-Holstein 1800 bis heute. Eine historische Landeskunde. Husum 2014, S. 64-157.
Frandsen, Steen Bo: Dänemark – der kleine Nachbar im Norden. Aspekte der deutsch-dänischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Darmstadt 1994.
Göttsch-Elten, Silke/Hansen, Nils: Modernisierung der Lebenswelten in Schleswig-Holstein vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. In: Lange, Ulrich (Hg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. Neumünster 2003, S. 513-544.
Klußmann, Jan: Vom Insten zum Industriearbeiter – Schleswig-Holstein im Zeitalter der Industrialisierung. In: Witt, Jann Markus/Vosgerau, Heiko (Hgg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. anschaulich – spannend – verständlich. Heide 2010, S. 272-279.
Paetau, Rainer/Rüdel, Holger (Hgg.): Arbeiter und Arbeiterbewegung in Schleswig-Holstein im 19. und 20. Jahrhundert. Neumünster 1987. (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins 13).
Pauseback, Paul-Heinz: Übersee-Auswanderer aus Schleswig-Holstein. „als hätten sie nie eine Heimat, nie eine Mutter gehabt!“. Bräist/Bredstedt 2000. (Schriften des Nordfriesischen Museums Ludwig-Nissen-Haus, Husum 49).
Sievers, Kai Detlev: Ländliche Wohnkultur in Schleswig-Holstein. 17.-20. Jahrhundert. Heide 2001.
Steensen, Thomas: Im Zeichen einer neuen Zeit. Nordfriesland 1800 bis 1918. Bräist/Bredstedt 2005.
Steensen, Thomas: Geschichte Nordfrieslands in der Neuzeit. In: Munske, Horst Haider (Hrsg.): Handbuch des Friesischen/Handbook of Frisian Studies. Tübingen 2001, S. 686-697.
Uekötter, Frank: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. München 2010 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 81).
Vosgerau, Heiko/Lubowitz, Frank: Zwischen Dänemark und Preußen – zwischen Nationalismus und Modernisierung: Schleswig-Holstein 1815-1920. In: Witt, Jann Markus/ Vosgerau, Heiko (Hgg.): Geschichte Schleswig-Holsteins. anschaulich – spannend – verständlich. Heide 2010, S. 229-271.
Bildquellen: Tram / Damenstraße: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek; Baupflege: Sönke Rahn, wikimedia.commons.org; Badeanstalt: Archiv Jürgen-Erich Dietrich, Husum; Preißler Plakat: Verein für Bredstedter Geschichte und Stadtbildpflege; Anzeige: Gemeinsames Archiv des Kreises Schleswig-Flensburg und der Stadt Schleswig, Schleswig