
Die Evangelischen Pastoren in der NS-Zeit
„Die Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte verleiht seit 2008 jährlich einen Preis, seit 2015 auch einen Nachwuchspreis. Mit diesen Auszeichnungen werden besondere Leistungen in der Erforschung oder Vermittlung der schleswig-holsteinischen Geschichte gewürdigt. Die Preisträgerin oder den Preisträger auszuwählen gehört zu den schönsten Aufgaben in der Vorstandsarbeit.“ So begann Prof. Dr. Thomas Steensen zur Verleihung des Preises der GSHG 2022. Der geht 2022 an Dr.Helge-Fabien Hertz für seine außergewöhnliche Arbeit, die alle 729 evangelischen Pastoren untersucht, die zwischen 1933 und 1945 in Schleswig-Holstein gepredigt haben. Helge-Fabien Hertz konnte pandemiebedingt den Preis am 21. September 2022 im Prinzenpalais in Schleswig nicht entgegennehmen. Das soll im Rahmen einer Vorstandssitzung nachgeholt werden. Hier Auszüge aus der Laudatio.
„Lassen Sie mich die Laudatio zur Vergabe des diesjährigen Preises der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Ich wurde getauft in Bredstedt von dem Pastor Johannes Lucht. In der Stadt nannte man ihn nur „Hannes Paster“, er bekam den Beinamen „Don Camillo Nordfrieslands“. … Vor etwa 25 Jahren stellte ich mir die schöne Aufgabe, zum hundertjährigen Stadtjubiläum die Geschichte meiner Heimatstadt Bredstedt zu erforschen und darzustellen. Bei der Quellenarbeit stieß ich auf Zeitungsartikel, Berichte, Briefe, die mich „Hannes Paster“ mit ganz anderen Augen sehen ließen. „Rasse, Volkstum und Nation“, so predigte er 1935, seien „von Gott geschenkt“. Es gehe um einen „artgemäßen Christusglauben“ und „heldische Frömmigkeit“. Johannes Lucht ist einer von 729 Pastoren in Schleswig-Holstein, mit denen sich unser Preisträger Helge-Fabien Hertz in seiner Dissertation beschäftigt hat. Sie ist entstanden am Historischen Seminar der Universität Kiel bei seinen „Doktorvätern“, den Professoren Manfred Hanisch und Rainer Hering, die diese Arbeit als „opus eximium“ bewerteten. Vor uns liegt oder auf unserem Computer-Bildschirm sehen wir ein geradezu monumentales Werk, drei Bände mit 1778 Seiten! Wer sich auch nur oberflächlich mit der evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt hat, für den kann das Ergebnis nicht völlig überraschend sein. Und doch müssen wir es erschütternd und erschreckend nennen: Viele derjenigen, die berufen waren, den Menschen die frohe Botschaft zu verkünden, ihnen die Nächstenliebe Jesu Christi zu vermitteln, predigten oftmals das genaue Gegenteil, nämlich Rassenwahn und einen „arischen Christus“. Von der Kirchenkanzel aus betrieben sie NS-Propaganda. Hitler wurde in den Rang eines Propheten erhoben, der deutsche Angriffskrieg mit Millionen Todesopfern als gottgewollt dargestellt.
Mit seiner „kollektivbiografischen Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft“ hat unser Preisträger Neuland betreten. Erstmals in Deutschland untersucht er das Verhältnis der Pastoren einer ganzen Landeskirche zum Nationalsozialismus. Er will an diesem Fallbeispiel „einen empirisch fundierten, umfassenden und differenzierten Einblick in die Wirkungsweisen und Einstellungsformen der evangelischen Geistlichkeit des ‚Dritten Reichs‘“ ermöglichen. Dies ist ihm in eindrucksvoller und überzeugender Weise gelungen. (Zu finden auf dieser Website unter Pastoren im „Dritten Reich“)
Fünf Jahre lang hat Helge-Fabien Hertz jeden Tag an dieser Studie gearbeitet, war in einem Zeitungsbericht zu lesen. Seine wichtigsten Quellen bildeten die Personalakten der Pastoren, außerdem die NSDAP-Mitgliederkartei im Bundes- und die Entnazifizierungsakten im Landesarchiv. Fast tausend vollständig überlieferte Predigttexte und Materialien für den Konfirmandenunterricht wertete er aus. …
Waren die Pastoren Mitglieder in der NSDAP? Bekleideten sie Ämter in NS-Organisationen? Beschlossen sie Briefe mit dem Hitler-Gruß? Nahmen sie an Reichsparteitagen teil? Oder aber gerieten sie in Konflikt mit NS-Organisationen, traten sogar aus ihnen aus? Hertz legt 36 solcher Indikatoren fest, mit denen er Aussagen über die „innere Einstellung“ der Pastoren trifft. Er misst deren Intensität, berücksichtigt mögliche Veränderungen im Zeitverlauf und nimmt teils äußerst kompliziert anmutende Berechnungen vor, um zu differenzierten Aussagen zu gelangen. Auch damit betritt er Neuland.
Im ersten Band seiner voluminösen Arbeit erläutert er die Grundlagen seiner Forschung und arbeitet zehn „Positionierungsformen“ zum Nationalsozialismus heraus; für jede stellt er beispielhafte Biogramme vor. In Band zwei schildert er 81 „NS-konforme“, in Band drei 41 „NS-nonkonforme Handlungstypen“. Das Spektrum reichte, so schreibt Hertz, „von handfestem Engagement in der und für die NSDAP, SA oder SS sowie Lobpreisungen Adolf Hitlers und Einschwörungen auf den NS(-Staat) über das Eintreten für die Wahrung der kirchlichen Autonomie bis hin zu Formen des Protests oder der Kritik am NS(-Staat)“. Etwa 80 Prozent, vier von fünf Pastoren kollaborierten mit dem Nationalsozialismus oder zeigten eine innere Zuneigung. Nachweislich waren über 20 Prozent Mitglieder der NSDAP, viele betätigten sich als Blockleiter, Ortsgruppenleiter, Kreisleiter, SA-Rottenführer. Keine vier Prozent zeichneten sich durch eine Abneigung gegen den NS-Staat aus oder betrieben sogar Opposition gegen ihn. Die allermeisten Geistlichen gehörten nicht zu den Opfern des NS-Regimes, wie so mancher nach dem Krieg glauben machen wollte.
Deutlich wird, dass eine Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche, zu der sich fast jeder zweite Geistliche in Schleswig-Holstein zumindest zeitweise rechnete, keineswegs eine Ablehnung des Nationalsozialismus implizierte. Die meisten Pastoren dieser Richtung befürworteten stramm den NS-Staat, lehnten indes eine Gleichschaltung der Kirche ab. Noch heute wird die Bekennende Kirche häufig mit Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller identifiziert und als Widerstandsorganisation gesehen. Hertz belegt detailliert, dass dies falsch ist: „Die BK hatte eher eine braune Weste mit Schattierungen und weißen Flecken als eine weiße Weste mit braunen Flecken.“
Nur vier der 729 Pastoren können tatsächlich dem Widerstand zugerechnet werden, und oftmals predigten sie dann vor fast leeren Kirchenbänken. Die Parteinahme für den Nationalsozialismus geschah dabei keineswegs aus Zwang. Den Pastoren blieben durchaus, auch das wird deutlich, große Handlungsspielräume. Keiner von ihnen wurde gezwungen, in seinen Predigten dem „Führer“ zu huldigen, die „Volksgemeinschaft“ zu heiligen oder die Juden zu diffamieren. Alles geschah freiwillig, auch der Eintritt in die Partei. Selbst Kritik am NS-Staat war ohne ernste Folgen möglich. Dass aber so viele Pastoren den Nationalsozialismus begeistert begrüßten und in seinem Sinne handelten, hatte weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen, galten sie doch in ihren Dörfern und Gemeinden als Respektspersonen und moralische Instanz. Schließlich gehörte der weitaus größte Teil der Bevölkerung in Schleswig-Holstein der evangelisch-lutherischen Kirche an. …
Im Internet hat Helge-Fabien Hertz, auch dies ein großes Verdienst, ein Verzeichnis aller Pastoren zugänglich gemacht … Das Pastorenverzeichnis, gefördert von der Nordkirche, der Sparkassenstiftung und dem Verein für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte, fand eine geradezu überwältigende Resonanz. Innerhalb von zwei Monaten griffen 25.000 Menschen auf diese Datenbank zu. …
Der Verfasser hebt individuelle Widersprüche hervor, die in einem und demselben Pastor zutage treten konnten. Üble NS-Propaganda steht manchmal neben Zugewandtheit und Menschenliebe. So war es wohl auch bei jenem „Hannes Paster“ in Bredstedt, den Hertz der Gruppe der „NS-Aktivisten“ zurechnet. Zu hoffen ist, dass sich viele Kirchengemeinden und -kreise in Schleswig-Holstein mit ihrer eigenen Vergangenheit befassen. Und vielleicht kann diese wegweisende Studie auch ein Vorbild für andere Landeskirchen in Deutschland sein. Zu erforschen bleibt für Schleswig-Holstein noch die Haltung von Freikirchen sowie von katholischen und altkatholischen Priestern zum Nationalsozialismus.
Helge-Fabien Hertz hat eine außergewöhnliche, eine großartige geschichtswissenschaftliche Leistung vollbracht. Seine Arbeit hat den Preis der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte verdient – herzlichen Glückwunsch!
Dass wir diese Preise Jahr für Jahr vergeben können, verdanken wir der Brunswiker Stiftung in Kiel. Sie bewahrt das Vermächtnis des Ehepaars Ernst Georg und Marion Jarchow, das unserer Gesellschaft sehr verbunden war. Für dieses großartige Mäzenatentum sind wir dem Ehepaar Jarchow und der Brunswiker Stiftung, an deren Spitze Herr Klaus Ripken steht, zu großem Dank verpflichtet. Dieser Dank vergrößert sich sogar noch, weil Herr Ripken die Preisgelder von diesem Jahr an deutlich erhöht hat!“
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